Zum Konzert am 5. Februar 1979 in München
Süddeutsche Zeitung, 7. Februar 1979
Unzeitgemäß und bedeutend
Werke von Othmar Schoeck in der Akademie der Schönen Künste
"Überall", sagte Hermann Hesse zu Schoecks Gedichtvertonungen, "ist mit fast erschreckender Sicherheit der Finger auf das Zentrum gelegt, auf jenen Punkt, wo um ein Wort oder um die Schwingung zwischen zwei Worten sich das Erlebnis des Gedichts gesammelt hat." Damit ist Othmar Schoecks subtile Liedkunst, die Mitte seines Schaffens, seine an Goethe, der Romantik, der lyrischen Intuition orientierte Ästhetik präzise gekennzeichnet. Die Bayerische Akademie der Schönen Künste, verdienstreich bemüht, das Nichtübliche, das Verdrängte und Vergessene wieder bekanntzumachen, hatte die Witwe des 1957 verstorbenen schweizerischen Komponisten, der übrigens Mitglied der Münchner Akademie war, eingeladen und obendrein Dietrich Fischer-Dieskau gewonnen, um ihrem Schoeck-Abend in der Musikhochschule den Stempel des Exzeptionellen aufzudrücken.
Egon Voss sprach einführende Worte über einen Komponisten, dessen Begabung auf Innerlichkeit und Naturliebe gerichtet, dessen lyrisches Weltbild zwangsläufig nach rückwärts gewandt war und von daher fast einen antizivilisatorischen Affekt bezog. Ob deshalb Schoeck morgen mehr geschätzt sein wird als heute?
Bevor eines der Hauptwerke Schoecks erklang, spielte das seit 1971 bestehende, vornehmlich mit neuer Musik an die Öffentlichkeit getretene und wohl schon heute zu den Spitzenensembles der Quartettzunft zählende Berner Streichquartett Schoecks Opus 23 in D-Dur (1912/13), ein mit nahezu romantischer, schlichter Innigkeit anhebendes, zu bedeutsamer und verzweigter Quartett-Rede sich steigerndes und am Ende aus den Fugen brechendes Werk.
Sodann das "Notturno", fünf Sätze für Streichquartrett und eine Singstimme op. 47 (1931/33). Schoeck hat einige solcher Liedzyklen geschrieben, Gedichtgruppierungen, die ihr Textmaterial in kleinere und größere Instrumentalformen einbauen und sich vor allem eines gefächerten Begleitapparates bedienen: Tatsächlich, was das Streichquartett im "Notturno" an Farben und Nuancen, Stimmungswechseln und Ballungen hervorbringt, könnte kein Klavier je verwirklichen; und Schoeck spricht eine starke, von Chromatik, melodischen und rhythmischen Spannungen gesättigte Ausdruckssprache. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen künstlerische Seriosität sich immer wieder auch da beweist, wo es abseits von Staatsbühnen und Plattenstudios (und sogar ohne Gage) ausschließlich der Musik zu dienen gilt, Dietrich Fischer-Dieskau durchschritt den von Abschied, Herbst und Einsamkeit durchzogenen Kreis der Lenau- und Keller-Lieder Othmar Schoecks mit phänomenaler lyrischer Einfühlung, und das Berner Streichquartett bewältigte seinen Part, der ein Äußerstes an Differenzierung, instrumentaler Erregung, wildem Ausdruck bietet, mit bewundernswerter Präsenz. Schoeck, der fast allen neueren Strömungen seiner Zeit ablehnend gegenüberstand, ein konservativer Anwalt der Vergangenheit, war in der Tat ein bedeutender Komponist. Er sollte, vor allem von den Liedsängern, nicht weiter unterschätzt werden.
Wolfgang Schreiber