Zum Konzert am 13. April 1979 in München


Süddeutsche Zeitung, 17. April 1979

Bachs Mythos – nah und fern

Die Matthäus-Passion unter Richter im Kongreßsaal

Auf den Karfreitag genau 250 Jahre nach Bachs Leipziger Uraufführung, 150 Jahre nach Felix Mendelssohns kühner Erweckungstat, trat Karl Richter, wie es jährlicher Münchner Brauch, ans Pult seines Bach-Chors, um die Herausforderung des ebenso monumentalen wie schwer (und eigentlich nur widerspruchsvoll) zu realisierenden Werkes erneut zu bestehen. Und Richter, der – Kruzianer in Dresden, Schüler Straubes und Ramins, Organist an der Thomaskirche – fest in jener Bach-Tradition wurzelt, die mit der romantischen Tat Mendelssohns begann, blieb seinem Interpretationsstil treu. Das heißt: Inmitten einer immer kommuner werdenden sogenannten historisierenden Bachauslegung mit "Originalklang", reduziertem Chor-Orchester-Apparat, modifizierten Tempi und Akzentuierungen beharrt er auf dem Prinzip der expansiven musikalischen Gestik, auf Ausdruckswucht und einem Rest von religiösem Ritual: Ein Starsängeraufgebot und dementsprechende Eintrittspreise, ein durch und durch profanes Publikum im ausverkauften Kongreßsaal hinderten ihn nicht zu bitten, "wegen der liturgischen Bedeutung des Tages" auf den gewohnten Applaus zu verzichten.

Musikhören kann nicht total in frommer Erbauung aufgehen, ebensowenig läßt sich aus dem Konzertauditorium eine religiöse Gemeinde zusammenschweißen. Und ganz und gar mißverständlich wäre die Erwartung, ein umfangreicher Bach-Chor, ein massiv besetztes Münchner Bach-Orchester (mit sechs Kontrabässen), die besten und teuersten Gesangssolisten garantierten bereits den moralischen Mitvollzug des Werkes über den puren ästhetischen Genuß hinaus. Aber gerade der war an diesem Karfreitagabend öfters empfindlich gestört.

Da hatte Julia Varady, die für Margaret Price eingesprungen war, einfach nicht das nötige Fingerspitzengefühl dafür, was eine Da-capo-Arie Bachs von schwellendem Operngesang unterscheidet, sie verwechselte figurativ ausgezierten barocken Stil mit schwelgerisch extrovertiertem Gefühlslyrismus und ließ auch manche musikalische Unsicherheit durchhören; da zeigte Brigitte Fassbaender anfangs erhebliche Nervosität und überzeugte schließlich doch noch mit dem geglückten Versuch, die Alt-Arien rein instrumental und mit größter Ausdrucksdistanz zu gestalten. Von Pathos hielt sich Dietrich Fischer-Dieskaus Christus weitgehend fern, leider fehlt ihm diesmal für die Partie die nötige Tiefe, der Glanz, das Volumen. Kieth Engens Baß gelangen packende Momentaufnahmen der kleineren Handlungsmomente, seine Baß-Arien klangen kraftvoll-rustikal. Ideal einzig Peter Schreiers derzeit konkurrenzloser Evangelist. Schreier blieb mit Leidenschaft auf der Spur des Passionstextes, deutete detailfreudig das dramatisch lodernde Geschehen, vermittelte durch variable Stimmfärbung Anteilnahme. Daß er mehr Erfahrung mit Bachgesang als die anderen Solisten in die Waagschale zu werfen hat, blieb keinen Moment lang zweifelhaft.

Karl Richter praktizierte die übliche Zweiteilung des Apparates, ließ Arien einmal vom rechten, dann vom linken Orchester begleiten, kümmerte sich im übrigen wie gewohnt liebevoll um die instrumentale Ausgestaltung des Werkes. Auffallend war sein Hang zu pathetischen Ritardandi bei Satzschlüssen, zu übertrieben langsamen Tempi in der Christuspartie, zu unterschiedlicher und inkonsequenter Behandlung der Fermaten, zur Auftaktschwere in den Chorälen. Der Chor wirkte oft wenig differenziert in den Stimmen, die Soprane klangen, wie gewohnt, zu laut durch, auch hätte etwa bei den Chorälen die instrumentale Begleitung mehr gedämpft werden müssen. Wuchtig-wirkungsvoll, ebenfalls wie gewohnt, die gezackten Turbae-Chöre, wie überhaupt diesmal der Schwerpunkt seiner Interpretation auf dem dramatischen Akzent des Werkes zu liegen schien. Manche Einzelheiten gingen schief, aber der Gesamtcharakter der Wiedergabe überzeugte dennoch. Vor allem die poetischen Abschnitte, so die ganze Schlußpassage mit Abendschilderung und Grablegung, gelangen Richter mit hochexpressiver Inbrunst.

Und in solchen Momenten vergaß der Hörer wohl alle Stilfragen, alle Widersprüche von kirchlicher Funktion und Konzertsaalprofanität, von intimer Detailliebe und Kongreßsaalverlorenheit (etwa beim Gambensolo der "Kreuz"-Arie), von historischer Ferne und zu aktualisierendem Vollzug. Vielleicht ist die Hervorkehrung der Widersprüche realistischer, ehrlicher als die Fiktion einer "authentischen" Originalgestalt angesichts lebendig zuhörender Zeitgenossen, und auf jeden Fall ist Richter dem Ausdrucksgehalt des mythischen Werkes näher dadurch, daß er mit kraftvoller Gebärde, und ohne allzu viele historische Bedenken, hineingreift in "die größte Geschichte aller Zeiten".

Wolfgang Schreiber

zurück zur Übersicht 1979
zurück zur Übersicht Kalendarium