Zum Konzert am 7. Juni 1979 in München
Süddeutsche Zeitung, 11. Juni 1979
Strauß Kantaten
Mahler und Einem beim Symphoniekonzert des Bayerischen Rundfunks
Rafael Kubelik hat ein Herz für Kantaten, für Vokalmusik mit symphonischem Hintergrund, wenngleich derlei sperriger Aufwand mit Mühsal, Besetzungssorgen, Mehrkosten und Tücken einhergeht. Im zwölften und letzten Konzert seines Zyklus dirigierte er Mahlers "Klagendes Lied" und Einems "An die Nachgeborenen". Das erste Werk ist um 1880 entstanden, das andere 1975 bei der UNO in New York uraufgeführt worden; nach vorigem Jahrhundert schmeckte jedoch nur das kürzlich komponierte Stück, während Mahlers symphonisches Lied seine Entstehungszeit hinter sich läßt, ungeachtet der Wagner-Nachklänge, wie sie sich damals jedem noch nicht vergreisten Zwanzigjährigen aufdrängten.
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Mahlers symphonischem Lied war ein Achtungserfolg beschieden, Gottfried von Einems Kantate "An die Nachgeborenen" versetzte den Herkulessaal geradezu in Ekstase. Der anwesende Komponist konnte sich von der Fortschrittlichkeit des Münchner Publikums überzeugen. Die Auftragsarbeit für die UNO rekapituliert Musikgeschichte von der Gregorianik und dem Bach-Choral bis zu Mahler und dem Opernstil Einems. Sie schafft sich Rückendeckung durch Verse, die dem vielberufenen abendländischen Bewußtsein teuer sind: Psalmen, Sophokles, Hölderlin, Brecht. Bald im dramatisch aufgeheizten Rezitativ – Julia Hamari verkündigte Brechts titelgebende Verse wie Donnerworte -, bald in schmuck historisierenden Chören machte eine lautstarke Musik den Versuch, mit Weltliteratur auf gleich zu ziehen, wobei die Verse manchmal illustrativ zerlegt, manchmal veropert und manchmal mit verweltlichtem Erbauungston unterlegt wurden. Die stilistische Unsicherheit mancher zeitgenössischer Repräsentationsbauten kehrte auf Notenpapier wieder, das matte Abstrahieren archaischer Formen, der Wunsch, es jedem und vornehmlich der Tradition recht zu machen und schließlich so etwas wie Größe anzusteuern. Gedämpfter Optimismus, wie wir ihn zu Cocktailkleid, Jahresversammlung und kaltem Büfett tragen, schlug reichlich entgegen. Eine Festmusik für Aufsichtsräte.
Einmal legte sich die laute Rhetorik und gab den Blick auf Einems Inneres frei: als zu einer wehmütig-schönen Melodie Hölderlins "Geh unter, schöne Sonne" anhob und Dietrich Fischer-Dieskau kraft seiner singulären Persönlichkeit den Rang der Dichtung und den Wert eines musikalischen Einfalls bewegend hervorhob. Jedoch der Augenblick, gelebt im Paradiese, wurde mit 50 sauren Minuten bezahlt, in denen man vornehmlich den Elan der Ausführenden bestaunte.
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Karl Schumann