Zur Oper am 23. Juli 1979 in München


Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt 

Münchner Opernfestspiele

Anatomie eines ungewöhnlichen Erfolgs

Warum Aribert Reimanns "Lear"-Oper immer unwiderstehlicher wirkt

Aribert Reimanns "Lear", für Dietrich Fischer-Dieskau komponiert, von Jean-Pierre Ponnelle mit surrealistisch-theatralischer Sicherheit in Szene gesetzt, von der Technik, den Kostümwerkstätten sowie den durchweg erstklassigen Sängern, Sängerinnen, Chormitgliedern des Bayerischen Nationaltheaters engagiert vorgetragen, und (wahrlich nicht zuletzt) vom präzis schlagenden, die Partitur immer freier beherrschenden Gerd Albrecht emphatisch-finster dirigiert: diese zugleich höchst anspruchsvolle und doch unmittelbar verständliche "Lear"-Darbietung ist bei ihrer Uraufführung vor einem Jahr bereits das mit viel Beifall und wenig Beklommenheit akklamierte moderne Opern-Ereignis der Festspiele gewesen.

Danach kam der "Lear" auch in Düsseldorf heraus: weniger prominent besetzt, im Musikalischen offenbar kompetent, von der Inszenierung her anscheinend eher anfechtbar dargeboten. Trotzdem hat sich König Lears Erfolg auch am Rhein wiederholt - obwohl man sich nach der Münchner Uraufführung doch darüber klar sein zu müssen glaubte, daß nur dank der außerordentlichen Konstellation Fischer-Dieskau/Ponnelle/Varady dem Werk eine so große Wirkung beschieden gewesen sei. (Denn wenn in Bayern etwas Zeitgenössisches Erfolg hat, kann es ja nicht mit sozusagen rechten "modernen" Mitteln zugehen, sondern immer bloß mit Star-Kult. Oder?)

Während der diesjährigen Festspiele wurde die mittlerweile mehrfach nach auswärts geladene Aufführung nur zweimal wiederholt. Bei der einstweilen "letzten" Darbietung standen kurz vor Aufführungsbeginn noch Hunderte vor ausverkauften Kartenschaltern. Der Erfolg war wiederum, obwohl der Aktschluß vor der Pause keineswegs besonders geschickt die Zäsur setzt, einhellig, am Ende ovationshaft. Was aber mehr wog als der Triumph-Jubel, in den sich möglicherweise etwa Selbstbestätigung und Shakespeare-Kult gemischt haben, war die beinahe vollkommene, gebannte Stille während der einzelnen Szenen.

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Nachdem ich die Oper mehrere Male auf mich habe wirken lassen, halte ich die Produktion für eines der großen theatralischen Ereignisse des Musiktheaters seit 1945. Was bei der ersten Begegnung mit diesem "Lear" noch als Manko erschien, und was wohl auch der Dirigent Karl Böhm im freundschaftlichen Gespräch mit dem Komponisten einwandte, nämlich daß es sich weniger um eine Opern-Partitur als um eine sehr geschickt geschriebene Bühnenmusik handle: Dieser erste Eindruck bestätigt sich nicht. Reimanns Partitur setzt mit modernen Mitteln fort, was Wagner als Ideal teils knapp, teils symphonisch begleitenden Opernrezitativs vorschwebte - und woraus Debussy die feinen, abgründigen Wonnen seiner ja keineswegs nur zurückhaltenden "Pelléas"-Partitur bezog. Reimanns dramaturgische Intelligenz ist dabei (und darum mag der Vergleich mit Wagner und Debussy statthaft sein) so groß, daß er sich mit den ungeheuerlichen Stärken des Textes verbündet, statt die Shakespearesche Monumentalität stets übertönen zu wollen.

Aber nicht nur der (eher vom mittleren Ligeti als von Blacher her entwickelte) leise erregte "sound" heftig beanspruchter Streicher macht die Tragödien-Begleitmusik durchsichtig und aufregend, sondern auch die wilden, scharfen Bläserkommentare steigern die - dank des meist deutlich verstehbaren Textes - erzeugte Spannung.

Reimann verfügt über vier in sich wohlausgebildete Modelle gesanglicher Darbietung. Über ein Parlando, einen ausdrucksvoll psalmodierenden Ton (den Fischer-Dieskau mit unnachahmlicher Kunst vorbringt), eine liedhaft-ariose Freiheit, die tief beeindruckt sowohl während der Schlußszenen Lear/Cordelia (Julia Varady) als auch während der Auftritte des armen Tom/Edgar (Counter-Tenor David Knutson). Viertes Ausdrucksmittel schließlich ist ein hochdramatischer Koloratur-Gesang, der, wenn ihn etwa die großartig bösen Töchter Goneril und Regan anstimmen (Helga Dernesch, Colette Lorand), zwar unmittelbar wirkt, aber als Kunstmittel doch zugleich etwas Grelles und Parodie-Nahes hat. Reimann kam im Verlauf der Komposition offenbar auch von dieser Überdeutlichkeit ab.

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Statt einer ausführlichen Analyse, zu welcher das aufregende Werk provoziert, können hier nur ein paar Erfolgs-Anatomie-Stichworte fallen. Daß Ponnelles Inszenierung so außerordentlich gelang (und für den Regisseur einen Weg darzustellen scheint, auf dem er sich nunmehr auch anderer Tragödien oder Musikdramen bemächtigen sollte), hängt nicht nur mit dem fabelhaft freien Bühnenbild zusammen, das ganz selbstverständlich weiterführt, was etwa Peter Steins Berliner Schaubühne in einigen großen Produktionen vorbereitete. Sondern auch mit Ponnelles Kraft, alle Figuren zugleich sagenhaft eindeutig auf einen unmittelbar einprägsamen Typus festzulegen, diesen Typ dabei aber nie billig-kasperlehaft zu entwerfen, sondern mit hohem, an später französischer Theaterkultur erworbenem Raffinement. So wie die Musik eher ein milder oder heftiger szenischer Kommentar ist, so wirkte Ponnelles Inszenierung als rauschendes Fest des Verdeutlichens mittels riesiger Gesten, zwingender Anordnungen, phantastisch reicher Tabelaux. Während man zuschaut, bemerkt man gar nicht, wie artifiziell (antirealistisch) hier das Archaische in Erscheinung tritt.

Fischer-Dieskau, der die Lear-Rolle mit respektablen Kraftreserven meistert, geht glücklicherweise nicht so weit, den schrittweisen Fortschritt in den Wahnsinn direkt vorzuspielen, zu "verkörpern". Er befleißigt sich da nur taktvoll demonstrativen Hinweisens. Nur wenn höchste Emphase es gebietet, wie beim herzlichen Schluß, dann wird aus dem König auch ein Mimus.

Gewiß fand dies alles zum Ruhme eines grandiosen Sängerkünstlers, vorzüglicher Solisten, eines Regisseurs auf der Höhe seiner Ausdruckskraft, eines besessenen Dirigenten und eines unternehmungslustigen Staatstheater-Intendanten statt. Aber doch erst recht - und darin eine indirekte Kritik zu sehen, wäre absurd - zum höheren Ruhme Shakespeares. Die Tragödie vom König Lear enthält für jede Haltung, Wildheit und Herzlichkeit, die sie vorführt, auch beliebig viele Motivationen. Aber der Sinnverblendungs- und Trostzusammenhang dieses Werkes steht begriffslos hoch über allen möglichen Erklärungen. Es ist so, bedeuten uns Shakespeares Szenen. Reimanns und des Münchner Nationaltheaters Kunst haben uns die unendliche Beredsamkeit dieser Begriffslosigkeit tönend ins Bewußtsein gehoben.

Joachim Kaiser

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