Zur Liedermatinee am 2. September 1979 in Berlin
Der Tagesspiegel, Berlin, 4. September 1979
Intuition und Bewußtheit
Lieder-Matinee Dietrich Fischer-Dieskau
Die Deutsche Oper war am Sonntagvormittag bis hoch hinauf in die Ränge voll besetzt. Dietrich Fischer-Dieskau hatte eine Matinee mit Hugo Wolfs Vertonungen Goethescher Gedichte angekündigt. Und wie das anspruchsvolle Programm den Sänger ehrte, so zeugten die konzentrierte Aufnahmebereitschaft und der anhaltende Enthusiasmus der Hörer für das geistige Niveau des Auditoriums.
Es ist das Geheimnis dieses Künstlers, daß ihm von den ersten Takten der Gesänge des Harfners (aus "Wilhelm Meister") der Absprung in die ideelle Sphäre einer totalen Identifikation mit Wort, Ton und ihrer Bedeutung gelingt, so daß alle Elemente des Vortrags, wie Tonfarben, Akzente, Dynamik und deklamatorischer Gestus, mit dem Ausdruckswillen bis in die subtilste Nuance übereinstimmen. Hugo Wolfs Fähigkeit, in einer spontan erlebten Dichterpersönlichkeit mit gleichzeitig intuitiver wie hochbewußter Gestaltungskraft aufzugehen, fand in der nachschöpferischen, durch Intuition und bewußte Formgebung ausgezeichneten Leistung des Sängers ihr aktuelles Korrelat.
Intuition und Bewußtheit sind die ursprünglichen Quellen der Kunst Fischer-Dieskaus, die seinem Vortrag in jedem Takt die faszinierende Ausdrucksmacht verleihen. Die ausweglose Tragik des Harfners, dem Schubert mit wunderbarem, elegisch-überflutendem Melos romantisch-adäquate Gestalt gab, ist bei Wolf in der durch Wagner erweiterten musikalischen Sprache mit epocheüberschreitender harmonischer Kühnheit um vieles psychologisch realistischer und differenzierter gedeutet.
Das dunkelgetönte Seelengemälde wurde von einer Gruppe frühlingshafter Gesänge abgelöst, in der die sanfte Ekstase des "Ganymed" unter den heiter-ironischen Stücken wie "Der neue Amadis" oder "Der Rattenfänger" ihre zentrale Stellung hatte. Hier ist der Ort, die Partnerschaft Wolfgang Sawallischs zu rühmen, der den Klaviersatz Hugo Wolfs, in dem das vokal-instrumentale Gleichgewicht vielfach zugunsten des Klaviers verschoben ist, mit allen Künsten des Anschlags, der Kolorierung und Akzentuierung zur Stätte zentraler, vom Lebenshauch schöpferischer Phantasie erfüllter musikalischer Vorgänge erhob. Was der Münchner Generalmusikdirektor aus dem wohlintonierten Bösendorfer-Flügel an akkordischer Sonorität oder funkelnden Diskantfigurationen herauszuholen verstand, verdient unsere höchste Bewunderung, zu schweigen von der idealen Intentionsgemeinschaft mit dem Sänger, dessen glänzende stimmliche Disposition eine neuerliche Steigerung seiner Mittel in den tieferen Registern und seiner anscheinend unerschöpflichen Kraftreserven in allen Lagen bezeugte.
Der zweite Programmteil brachte mit "Grenzen der Menschheit" und "Prometheus" die beiden härteren Glieder der mit dem "Ganymed" gebildeten "mythischen Trilogie". Hier wie dort erreichten Sänger und Pianist in selten erlebter Einheit Höhepunkte sinnenhafter Klanglichkeit und spiritueller Magie. Als Blume zwischen zwei Abgründen erschien das kostbare Versgebilde, das der Dichter "antiker Form sich nähernd" auf "Anakreons Grab" schuf. Die intime Gefühlsinnigkeit, das sensible Sprachmelos der Kompositionen wurden von den Interpreten im zarten Stimmungszauber verwirklicht. Zwei "Kophtische Lieder" aus dem "West-östlichen Divan" schlossen die Folge ab. Die Zuhörer gaben sich aber erst zufrieden, als nach vier Zugaben (zwei weiteren Liedern aus dem "Divan" und zwei Mörike-Liedern) der Sänger mit "Nicht länger kann ich singen" aus dem "Italienischen Liederbuch" das unwiderrufliche Ende des erlebnisreichen Vormittags angekündigt hatte.
Walther Kaempfer