Zum Liederabend am 30. Oktober 1979 in Nürnberg
Nürnberger Nachrichten, 1. November 1979
Sturm und Stille
Dietrich Fischer-Dieskaus universelle Kunst – Konzert in Nürnberg
Wie jeder andere Sänger, der auf dem Podium der Meistersingerhalle gastiert, nennt Dietrich Fischer-Dieskau sein Recital schlicht "Liederabend". Bei keinem anderen Sänger aber käme man auf die Idee, an diesem Titel zu rütteln. Bei Fischer-Dieskau reicht die Beschaulichkeitsfloskel "Liederabend" nicht mehr aus. Er sprengt – selbst wenn er nur Gesänge eines einzigen Komponisten gestaltet – diese Einheitsformel. Was sich bei ihm zwei Stunden lang ereignet, ist gesungenes, aber nicht nur gesungenes, sondern vielschichtig, umfassend dargestelltes Welttheater.
Auf der Bühne verkörpert Dietrich Fischer-Dieskau heute die verschiedensten Charaktere von Wagners Sachs bis Reimanns Lear. Wenn er im Konzertsaal ein Lied singt, ungeschminkt und ohne Illusions-Atmosphäre, dann steht er ebenfalls auf der Bühne; er schafft den imaginären Raum, das Panorama und die Aktion, die sich spannend darin begibt; unmittelbarer noch als in einer Oper teilt er sich mit, weil er nicht aus einer Rolle, sondern aus sich selbst spricht. Die künstlerische Botschaft ist in ihrer Menschlichkeit bestürzend gegenwärtig.
Aus kurzen, klavierbegleiteten Tonfolgen entstehen Menschen; seelische Vorgänge verdichten sich zu Szenen, zu Dramen. Die menschliche Stimme wird zum Instrument, um Begegnungen, Erkenntnisse zu vermitteln. Aus zwanzig Liedern entspringen tausend Bilder und Gedanken. Ein lyrischer Kosmos tut sich auf, voller Träume und voller Realität, voller Phantasie und voller Tatkraft, reich an Farben und Formen, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Gesänge der Trauer
In der Schubert-Auswahl des Nürnberger Programms überwogen die Nachtstücke, die Gesänge der Trauer. Aber der Bogen war weit gespannt, vom prometheischen Aufbegehren bis zur melancholischen Resignation. Sturm und Stille in der Nähe Gustav Mahlers – aber Fischer-Dieskau interpretiert Schubert so modern, daß bei diesem Transport in unsere Zeit Ähnlichkeiten mit Mahler nur flüchtig aufscheinen.
Unkonventionell war die Auswahl vom ersten Takt bis zur letzten Zugabe. Kein unverbindliches Opus zum Einsingen, zum Anwärmen der Stimmung: Fischer-Dieskau überfällt sein Publikum mit dem Prometheus-Konflikt, zwingt es mitten hinein in den uralten und immerwährenden Mensch-Gott-Dialog, entzündet das Feuer in Goethes pantheistischem Plädoyer.
Überblickt man in der Kunst Fischer-Dieskaus nicht einen Abend, sondern Jahrzehnte, dann offenbart gerade "Prometheus" die Entwicklung zur Reife deutlicher als andere Lieder. Der Vierundfünfzigjährige schleudert Zeus den revolutionären Trotz nicht mehr als wilde Aggression entgegen wie vor zwanzig Jahren; die totale Absage an göttliche Autorität indessen formuliert er nicht weniger scharf, aber angereichert mit der Bitterkeit des Wissens, an entdeckt neue Schlüssel-Verse: "Hat nicht mich zum Manne geschmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das ewige Schicksal / Meine Herren und deine?"
Die "allmächtige Zeit", die auch an einem Stimmwunder mit phänomenaler Technik nicht spurenlos vorübergeht, hat ihn geschmiedet zum bewußten vokalen Verkünder poetischer Inhalte in unserer Zeit. Und wenn er einmal nicht mehr mit voller Kraft aus der Substanz schöpfen kann, wird sich die gestalterische Intensität potenzieren.
Menschliches Bekenntnis
Auf diesem Weg beginnt Fischer-Dieskau nun seine Pianissimo-Kunst zu verfeinern, sein Mezzavoce zu facettieren, sein wortplastisches Parlando mit einer weiteren Nuancen-Vielfalt zu beleben. Goethes "Meeresstille" zeigte, welch hohen Grad der Sensibilität die Ausdrucksdifferenzierung erreicht hat, zeigte, wie sich die geistige Durchdringung von Text und Musik immer mehr vertieft.
Wenn sich Fischer-Dieskau in dem Lied "An die Leier" – einst ein Favorit im Repertoire Heinrich Schlusnus’ – vom drohenden Heldensang der Heroen abkehrt, um seine Saiten der Liebe zu weihen, dann schmeichelt er nicht nur mit baritonalem Balsam, sondern überzeugt im menschlichen Bekenntnis. Die Schreckensworte in Schillers "Gruppe aus dem Tartarus" steigern sich in apokalyptische Dimensionen... erlöst von der tröstlichen Verheißung in "Wanderers Nachtlied".
Die schwarzen Lieder, Schuberts triste Nocturnos, leuchten aschfahl in gespenstischer, beklemmender Romantik und Todesmystik. Eine Vision jagt die andere: der Sänger beschwört kreatürliche Sterbensangst im Claudius-Poem "Der Tod und das Mädchen" herauf, identifiziert sich in Hamlet-Nähe mit der Einsamkeit des Totengräbers, jubelt "Selige Welt" und hebt "Des Fischers Liebesglück" auf eine Wolke von Zärtlichkeit, verbreitet leisen Humor ("An die Laute") und schweift mit Prosperos Zauberstab als "Musensohn" durch die Natur.
Impulse vom Partner
Bei dieser nach- und neuschöpferischen Verinnerlichung Schuberts ist der Wiener Pianist Jörg Demus ein treuer, dienender, impulsgebender Partner des Sängers und ein strenger Anwalt des Komponisten. Bei den weichen, verträumten Schubertweisen, den Klängen von Leid und Qual und in der absoluten Todesnähe, wird die Einheit der beiden Künstler am dichtesten – wie sie sich Jahre zuvor im Plattendokument der "Winterreise" manifestierte.
Bei den Zugaben zog es die gebannten Hörer ganz nahe an die Rampe zu Orpheus, den universellsten, der wohl je gesungen hat, das Geschenk unseres Jahrhunderts an die Vokalmusik der Welt.
Fritz Schleicher