Zur Oper am 19. Juli 1980 in München


Münchner Merkur, 21. Juli 1980

Münchner Festspiele: "Lear", "Iphigenie auf Tauris"

Nach wie vor fesselnd: Reimanns Shakespeare-Oper

Aribert Reimanns "Lear" - während der Opernfestspiele nur ein einziges Mal auf dem Spielplan - hat sich seit seiner Uraufführung vor zwei Jahren überraschend frisch gehalten. Nicht nur was das Werk selber angeht, auch was die fesselnde Münchner Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle und das ausgewogene, exzellente Ensemble betrifft. Nach wie vor leistet sich die Staatsoper ja den beachtenswert sinnvollen Luxus, den "Lear" ausschließlich in der Premierenbesetzung zu geben.

Ein Beweis dafür, daß - wenn es die besetzungstechnischen Zwänge eines Nicht-Repertoirestücks erfordern - auch an großen Häusern heute noch Ensembletheater zu realisieren ist. Alles schien an diesem festspielwürdigen Abend neu geprobt: Das Darstellerisch-Szenische wie das Musikalische. Es wurde eine Aufführung mit vielen Höhepunkten, in der brillant gesungen, zupackend realistisch gespielt und nervig-dramatisch musiziert wurde. Wenn auch Reimanns vorwiegend flächige, instrumentatorisch farborientierte Klangorganisation letztlich keine eindeutigen Rückschlüsse auf die interpretatorische Güte und Beschaffenheit der musikalischen Leitung Gerd Albrechts zuläßt, so ist doch festzuhalten, daß der Dirigent des "Lear" Präzisionsarbeit par excellence zu leisten hat. Albrecht sorgte sich um das mit der Materie mittlerweile bestens vertraute Orchester gleichermaßen selbstbewußt und distanziert, wie um die arg stimm-strapazierten Protagonisten.

Und so war es den bereits vielfach hochgelobten Sänger-Darstellern auch diesmal möglich, sich auf eine ausgefeilte Darbietung ihrer Rollen und Partien zu konzentrieren. Stellvertretend seien hier genannt: die Isoldenwürdige Helga Dernesch als scharfsinnig-intrigierende Goneril, die zusammen mit Colette Lorand (Regan) den Ausbund des berechnend Bösen verkörpern. In Cordelias Klage vermochte Julia Varady - mit bezwingender Sicherheit im Piano auch in extrem hohen Lagen - ihre musikalisch intensivsten Momente zu übermitteln. Das ungleiche Brüderpaar Edgar und Edmund könnte nicht besser als mit David Knutson (ein dramatischer Countertenor der Weltklasse) und dem stimmlich außerordentlich präsenten Werner Götz besetzt werden. Und Dietrich Fischer-Dieskau hatte das Publikum vom ersten Augenblick auf seiner Seite - so meisterlich ist er inzwischen mit der Titelrolle verwachsen. - Hymnischer Beifall, auch für den anwesenden Komponisten.

Stefan Mikorey

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