Zum Liederabend am 5. November 1980 in Essen

  


  

     Westdeutsche Allgemeine, Essen, 7. November 1980     

Wege ins Seelenlabyrinth

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus im Meisterkonzert

     

Ist Robert Schumann noch zu entdecken? Wer den Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus im Saalbau erlebte, mochte die Frage spontan bejahen. Nur eines der zwanzig Stücke gehörte zum gängigen Repertoire, aber nahezu jeder Gesang offenbarte neue Facetten Schumannschen Wesens, gab den Blick frei auf kunstvoll verworrene Wege ins Seelenlabyrinth, hatte seinen eigenen "Duft".

Da faszinierten harmonische Kühnheiten in Rückert-Vertonungen ("Ich hab’ in mich gesogen" und "Flügel! Flügel! Um zu fliegen") und die nachtdunkle Phantastik von Eichendorffs "Schatzgräber". Da verlockte feines, an Bach geschultes Stimmen-Gespinst ("Muttertraum"), fesselte ins Makabre gesteigerte Verzweiflung ("Spielmann"), vergnügte ironisch gebrochene Empfindsamkeit ("Abends am Strand"). Und die ganz frei flutende Poesie des Klavierparts von Heines "Mein Wagen rollet langsam" begeisterte ebenso wie die effektvollen Kontraste von Geibels "Weh, wie zornig ist das Mädchen".

Mit dieser Aufzählung ist die Fülle der Ausdrucksnuancen bei weitem nicht erschöpft. (Wobei allerdings anzunehmen ist, daß heute kaum ein anderer Sänger diese Vielfalt so wie Dietrich Fischer-Dieskau zu erschließen vermöchte.) Um sie zu erfassen und zu übermitteln, griff der Sänger diesmal nicht zu dem von ihm virtuos beherrschten Mittel der Pointierung von Gestus, Klang und Sinn einzelner Worte; er versuchte vielmehr, völlig eins zu werden mit dem lyrischen Subjekt. Und das bedeutete auch das Entstehen des Liedes aus dem Geist des ... Klavierstücks.

Jörg Demus war da ein idealer Partner. Er hat – bei aller Energie im entscheidenden Augenblick – die geforderte weiche Anpassungsfähigkeit nicht alllein an jede Nuance von Rhythmus, Tempo oder Artikulation des Sängers, sondern auch an jene feinsten Stimmungsschwankungen, Modulation des Ausdrucks, die Schumann seinem Instrument, dem Klavier, anvertraute.

Die Frage nach der rein stimmlichen Qualität mag bei einem solchen Abend in den Hintergrund treten. Unbestritten ist nach wie vor die wunderbare Tragfähigkeit des äußerst leisen, strömenden, dabei sprachlich fein artikulierten Klanges. Hingegen kamen Forte-Attacken nicht nur manchmal in Fischer-Dieskaus bekannter Weise plötzlich, aus der Linie herausstechend, sondern auch mit weniger Resonanz, spröder als gewohnt. Auch Registerwechsel, sogar leichte Intonationstrübungen wurden gelegentlich hörbar.

Aber die Faszination dieses Abends litt darunter kaum: die Neuentdeckung Schumanns; die Kunst, mit der dem Hörer unbekannte Lieder als überrraschend neue und zugleich wie längst vertraute ans Herz gelegt wurden; die Tatsache schließlich, daß die Interpreten ihr (Meisterkonzert-)Publikum offenbar davon zu überzeugen vermochten, daß ein Liederabend nicht zur höheren Ehre einer Stimme, sondern zum Ruhm eines Komponisten stattfinden sollte. Jubel, Rufe und fünf Zugaben, selbstverständlich von Schumann.

Klaus Kirchberg

zurück zur Übersicht 1980
zurück zur Übersicht Kalendarium