Zum Konzert am 18. Juni 1982 in Ludwigsburg


     

     Ludwigsburger Kreiszeitung, Datum unbekannt     

     

Keine Silbe und kein Sinn geht verloren

Dietrich Fischer-Dieskau und das Melos-Quartett bei den Schloßfestspielen

      

Ganz natürlich wirft ein Liedervortrag, wirft Quartettspiel in der weiträumigen, akustisch keineswegs idealen Vorstellungen entsprechenden Ludwigsburger Friedenskirche Probleme auf. Intimität geht verloren, andere Klangbilder entstehen. Aber deswegen auf das Programm zu verzichten, das jetzt der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und das Melos-Quartett vorgestellt haben? Der Kritiker plädiert für "nein", weil die positiven Argumente gerade in diesem Falle überwiegen: das Erlebnis des Ausnahmesängers für eine erheblich größere Zahl von Gästen, als das im Ordenssaal möglich gewesen wäre, und das Kennenlernen des Liederzyklus’ "Notturno" op. 47 des schweizerischen Komponisten Othmar Schoeck (1886 – 1957), das bisher zu Unrecht im Verborgenen geblieben ist. Die Ludwigsburger Schloßfestspiele boten nun die Möglichkeit.

Die Eröffnung des Abends mit Franz Schuberts Streichquartett d-Moll "Der Tod und das Mädchen" vermittelte einen anderen Eindruck, als er vom Melos-Quartett gewohnt ist. Der Klang schien weicher, weniger herb, im Andante con moto jener elegischen Stimmung zugewandt, die Schoeck in den letzten Liedern seines Zyklus’ findet. Die sich aufdrängende Frage, ob dieser andere Charakter des Melos-Klanges nun eine neue Entwicklungsstufe des Ensembles kennzeichnet, ob die Akustik Ursache dafür ist, oder ob es das Flair dieser zwei Stunden war, das hier "Eigen-Artiges" zustandebrachte, kann so nicht beantwortet werden. Sie löst jedenfalls heftige Diskussionen aus.

Trotz des Neuen oder des Verfremdeten – wozu man sich auch entscheiden will – trat die Nervigkeit des Spiels, das geistige Durchdringen der Partitur, was von jeher die Melos-Leute auszeichnet, keineswegs in den Hintergrund. Der Verzicht auf eine Pause wirkte sich deshalb insofern günstig aus, als der Übergang von Schubert zu Schoeck, der Eintritt Fischer-Dieskaus als Mitgestalter ins Ensemble und nicht als der eines Vorsängers mit Streicherbegleitung nahtlos vonstatten ging.

Gewiß muß eine nun bereits rund drei Jahrzehnte "im Einsatz" befindliche Stimme Alterstribut zahlen. Das Organ Fischer-Dieskaus hat ein wenig an Rundung, an Volltönung verloren, was den Sänger zu äußerster Textbetonung, mehr zur Gestaltung aus dem Wort als aus der Melodie heraus veranlaßt. Bei ihm geht keine Silbe und damit auch kein Sinn verloren. Die Musik tritt gegenüber dem Rhythmus zurück, der Dichter wird vor den Komponisten gestellt, ohne damit ein Rangverhältnis zu provozieren.

Solcher Interpretationsstil, der neben Schoeck eben auch den Dichtern Nikolaus Lenau und Gottfried Keller im "Notturno" (fünf Sätze für Streichquartett und eine Singstimme – Bariton -) Recht und Bedeutung beläßt, wird vom Komponisten auch durch die Anlage seiner Arbeit herausgefordert. Schoeck benutzt zu Begin des Zyklus’ eine harte Klangsprache, wendet sich an den Intellekt des Zuhörers und geht im Ablauf des Gesamtwerkes immer mehr zur Melodie über, um dann, rund ein Jahrzehnt vor Richard Straussens "Vier letzten Liedern", in jene emotional aufgefächerte Ebene einzutauchen, die nur noch Gefühl ausmacht.

Wie das Melos-Quartett und Fischer-Dieskau sich darin zu einer Einheit ohne Brüche fanden, wie die Streicher in den langen Zwischenspielen das vorbereiteten, was Fischer-Dieskau danach aufnahm und mit der Singstimme weiterführte, zählt zu jenen beglückenden Ereignissen, die jedes "Wenn und Aber" in den Hintergrund treten lassen.

HJK

       


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