Zum Konzert am 20. Juli 1982 in München


     

     Süddeutsche Zeitung, 22. Juli 1982     

     

Münchner Opernfestspiele

Aufschlußreiches Scheitern eines Genies

Robert Schumanns "Genoveva" konzertant aufgeführt

      

1.

Wem noch nie mit schlagender Evidenz klar wurde, was, und warum, "Oper" eigentlich ist, inwiefern heftige Handlungen, herrliche Melodien, mannigfache Leidens- und Liebesszenen noch längst nicht "opernhaft" sind, falls etwas Entscheidendes fehlt - der höre Robert Schumanns "Genoveva" in vier Akten. Wolfgang Sawallisch stellt diese einzige Oper des romantischsten Komponisten der Musikgeschichte im Rahmen der Münchner Opernfestspiele konzertant vor. (Nächste und letzte Aufführung des Werkes, in welches der Komponist so viel Liebe, Kunst und Ehrgeiz investierte: 28. Juli, 19.00 Uhr!)

Die Solisten sind: Gabriele Benackova in der Titelrolle, manchmal zu heftig, aber immer temperamentvoll, wenn auch anfangs ohne hinreichend zarte Lyrizität; Marjana Lipovsek als beherrscht dämonische Margarethe, dazu ein glänzendes Herren-Ensemble mit dem trefflichen Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Wolfgang Brendel, Kurt Moll! Weiterhin wirken, leider nicht allzu eindringlich und charakteristisch, das Bayerische Staatsorchester und der Chor des Städtischen Musikvereins Düsseldorf mit.

Die Aufführung - am Ende herzlich und recht anhaltend beklatscht - versuchte, von der etwas redseligen Ouvertüre an, dramatisch schwungvoll zu überrumpeln. Man bevorzugte rasche Tempi, lautes, erregtes Musizieren. Dazu neigten besonders Fischer-Dieskau, die Titelheldin und das Orchester, es sollte gewiß eine leidenschaftliche Hilfe für eine dramaturgisch und musikalisch nicht überzeugende Partitur sein. Nur, wer weiß, ob dadurch nicht die Schwächen der Oper noch krasser herauskamen! Ob es nicht - da die musikdramatischen Trauben ohnehin zu hoch hingen - entschieden besser gewesen wäre, von vornherein gleich das Lyrische, Zarte, Verhangene zu suchen und zu betonen? Doch dann hätte unsere Kritik vielleicht die unnötige "Verweichlichung" einer Opern-Partitur beklagt. Wahrscheinlich ist die Sache, in der herrliche Perlen schlummern, unrettbar. Aber warum?

2.

Robert Schumann liebte schon als junger Mann die an Bildern und Empfindungen überreichen Roman-Ergüsse von Jean Paul - von dem er mehr "Kontrapunkt" gelernt zu haben behauptete als im Musikunterricht. Schwer begreiflich, daß Schumann dann für die Oper den Gegentypus Jean Pauls wählte: nämlich den finsteren, psychologischen, heute grausam unterschätzten Tragiker Friedrich Hebbel und dessen "Genoveva". Da gegenwärtig kein deutsches Theater die "Genoveva" aufführt (unspielbarer als manches von Beckett oder Pinter ist dies gedankentiefe Stück auch nicht), seien hier einige Sätze über Hebbels "opus metaphysicum" erlaubt. Der junge Golo, dem die Gattin seines in den Krieg ziehenden Herrn zum Schutz überantwortet wird, verliebt sich sündhaft in Genoveva. Er zögert, probiert, Riskantes, Selbstmordähnliches - und glaubt sich dann gewissermaßen von Gott ermächtigt, sich der Genoveva zu bemächtigen. Hebbel zeigt, daß die Liebes-Leidenschaft ein Wert ist, natürlich. Aber Golo fühlt sich dabei gebunden an sittliche Normen. Weil er diese verletzen muß, wächst sein Selbst-Ekel. Darum läßt - es ist ein toller circulus vitiosus - seine Würde und Widerstandskraft immer mehr nach. Zum Schluß nimmt er nahezu Abschied von Gott und Gewissen. Er wägt den Mord an Genoveva: "Hätt’ ichs getan mit meiner eigenen Hand, ich trüge es und wohnt in meiner Tat" - was ja ganz sartrehaft existentialistisch klingt. Eingespannt in diese Konflikte - geht er zugrunde. Schon die ersten Sätze, mit denen er im Stück als jung und tüchtig vorgestellt wird, sind unauffällige Metaphern von Grausamkeit, tödlicher Präzision und hitziger Kälte...

3.

Und daran machte sich Robert Schumann? Schumann stützte sich auch auf Tieck. Robert Reinick sollte das Libretto bearbeiten. Richard Wagner gab kluge Ratschläge, die leider alle nicht befolgt wurden. Zustande kam eine in albern realistischem, manchmal opernparodie-nahem Deutsch verfaßte Mixtur, wo Genoveva kaum mehr ist als eine Märtyrerin, Golo kaum mehr als ein verliebter Junge, angestiftet von Margarethe, einer drahtziehenden Zauberin. Der Gatte ist kaum mehr als ein hochherzig vertrauensarmer, liebend dummer Ehemann. Mit Hebbels Anspruch hat das alles nichts mehr zu tun.

Das brauchte - siehe Figaro, Othello, Lulu - noch kein entscheidendes Handicap zu sein, obwohl bei einem derart auf psychologische Differenzierung angelegten Drama biedermeierliche Verharmlosung schon stört. Hinzukommt bei Schumanns Oper, daß die Figuren allesamt zwar gelegentlich Schönes zu singen haben - aber durch ihren Gesang, also durch die Musik, überhaupt nicht dramatisch charakterisiert werden. Wenn dieser Golo und diese Genoveva im 2. Akt die lyrische Perle der Oper vortragen - "Ihr singt so artig" spricht Genoveva, "laßt mit einer sanften Weise uns den wilden Lärm betäuben! Kommt, dort ist die Zither", worauf man "Wenn ich ein Vöglein wär’" als Duett anstimmt - dann gelingt es Schumann trotz sichtbarer Dramatisierungsabsicht kaum, sein bereits 1840 geschriebenes zart verwandeltes Volkslied irgendwie mit der Handlung und den Charakteren der 1848 komponierten Oper in Verbindung zu bringen.

Immerhin, das Duett (das übrigens Fischer-Dieskau und Peter Schreier jüngst auf einer DG-Platte wunderbar zart interpretiert haben) stellt eine musikalische Kostbarkeit dar. In der Oper freilich spürt man immer wieder, wie gleichsam der Lauf der Handlung das freie Erwachen der Musik abwürgt. Schlimmer noch als die dramaturgisch zertrampelten Melodien wirken jene Stellen, wo Schumann opernhaft aufdreht. Oder wo er protestantisch-eifrig eine doppelchörige Motette Bachs imitiert - weil Bach und deutsches Mittelalter im frühen 19. Jahrhundert zusammengehörten.

Manchmal erinnert die elegante Kurzatmigkeit auch an etwas, was mit deutschem Jüngling schwer zusammenzudenken ist: an Pariser opera comique! ("Sieh da welch feiner Rittersmann! Man sieht ihn nur mit Freuden an" im Finale des 1. Aktes). Und selbst wenn ein herrlich liedhaft unruhiges A-Dur-Duett ("Du läßt die arme Frau allein, sie wird ohn’ dich gar traurig sein") an größten Schumann gemahnt, dann hört man - vom oft banalen Orchester-Chor-Getümmel verroht - einer solchen Kostbarkeit nicht so zu - nach innen hin, lyrisch neugierig - wie man es in jedem Schumann-Liederabend täte. Und die Sache verhallt.

Es muß hier doch nicht beschwichtigend gesagt werden, daß Schumann ein großer Künstler, auch ein genialer Symphoniker war - dem eben nur das Opernhafte, um das er leidenschaftlich kämpfte, so schmerzlich fern lag. Auch im 4. Akt der "Genoveva" gibt es Schönes, Ergreifendes. Aber gerade weil manches die "Genoveva" mit "Lohengrin" und mehr noch mit dem "Tannhäuser" verbindet, begreift man hier, was für ein Operngenie Richard Wagner (dem allerdings kein einziger origineller Takt Klaviermusik gelang) gewesen ist. Die Opernanforderung macht aus dem einzigartigen Schumann einen guten Heinrich Marschner. Was für ein aufschlußreiches Scheitern!

Joachim Kaiser

PS. Leider war es nötig geworden, den Anfang der konzertanten Darbietung kurzfristig um eine Stunde vorzuverlegen. Das erfuhren nicht alle Interessenten rechtzeitig - vor allem die auswärtigen, aus Wiesbaden und anderswoher zugereisten Schumann-Enthusiasten nicht. Höchst gedankenlos und verwerflich mutet nun aber an, daß diese - eigentlich doch schuldlos verspäteten - Besucher, die zu Dutzenden verzweifelt wenigstens nach dem ersten Akt eingelassen werden wollten, nun ergebnislos draußen kämpfen und revoltieren mußten, weil die Verwaltung leider den Türschließern offenbar keine diesbezügliche Anweisung gegeben hatte. So sollten kunstinteressierte Gäste Münchens wirklich nicht behandelt werden!

J. K.

     


zurück zur Übersicht