Zum Liederabend am 27. Oktober 1982 in Bonn

    

     Generalanzeiger, Bonn, 29. Oktober 1982     

      

Melancholie und Witz virtuos gesungen

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus in der Beethovenhalle

     

Die Mörike-Vertonungen Hugo Wolfs, das wohl letzte "klassische" Kompendium des Liedgesangs, das in seinen bizarren Extremen die Ausdrucksmöglichkeiten der Form noch einmal erweitert und bis zum letzten ausreizt, haben den Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau im Laufe seiner Karriere bekanntlich wiederholt zu neuen "Interpretationen" oder Darstellungsvarianten herausgefordert. Auf seiner gegenwärtigen Tournee, die ihn dieser Tage auch in die Bonner Beethovenhalle (ins dritte Akademische Konzert Rabofskys) führte, überraschte er seine große Verehrergemeinde mit einer offenkundig weiter vertieften, weiter differenzierten Ansicht von den großartigen Liedkunstwerken. Mit Nachdruck und einer expressiven Intensität sondergleichen spürte, tastete er sich singend und deutend bis in die fernsten Verästelungen der Ausdruckswelten vor, um Kontroversen etwa von Mut und Zweifel, glücklichem Hochgefühl und melancholischer Trauer oft von einer Zeile zur nächsten präzise auszutragen und zu artikulieren. Seine Kunst, Übergänge und dynamische Wechsel ohne "Drücker" zu gestalten und emotionale Gegensätze scheinbar ohne Mühe in einer Phrase zu definieren, erschien dabei zu neuer Reife und Einsicht geführt.

Im Grunde können als Detailbelege für diese Sachlage fast alle der im Programm (in dramaturgisch überaus geschickter Reihenfolge) aufgeführten Einzellieder genannt werden, von den Melancholismen des "In der Frühe" über die virtuos inszenierte hektische Szenerie des "Feuerreiters" und die Welttrauer des "Um Mitternacht" bis zur hintergründigen Witzigkeit des "Abschieds" – und wieder zurück zur ruhevollen, verzichtenden Leidensgeste der (als Zugabe gesungenen) "Verborgenheit". Gewiß werden manche Zuhörer, denen Liedgesang zuvörderst ein Zweig des Belcanto ist, nicht überhört haben wollen, daß dem 57jährigen Sänger rein stimmlich nicht alles mehr so absolut vollkommen, rund und makellos "gelingt" wie in früheren Jahren und der pure Schöngesang hier und da eine Spur zu bewußt und geplant dem Effekt des "realen" Ausdrucks unterworfen scheint. Gleichwohl konnten sich auch solche Befunde im Gesamteindruck noch sehr wohl aufgehoben wissen in jenem beherrschenden Kunstziel der Vergeistigung und Vermittlung von tieferen künstlerischen Wahrheiten, dem Fischer-Dieskau sein Können nun ganz gewidmet zu haben scheint.

Am Klavier wirkte Jörg Demus als Mitgestalter wiederum mehr denn als "rücksichtsvoller" Begleiter. Das setzen zwar die Klavierparts bei Hugo Wolf bekanntlich schon entschiedener voraus als bei anderen Liedmeistern, doch versteht es Demus mit Intelligenz, mit den ungemeinen Differenzierungskünsten und der Anschlagskultur seines Spiels den Eigenstatus der Klavierkomposition immer auch als Aspekt des Gesangs und der gestalterischen Absichten des Sängers erscheinen zu lassen. In die Beifallsovationen aus ausverkauftem Saal wollte Fischer-Dieskau denn auch mit Recht seinen Begleiter immer voll einbezogen wissen.

Hans G. Schürmann

 

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