Zum Liederabend am 4. November 1982 in Wiesbaden


     

     Wiesbadener Kurier, 6. November 1982     

     

Dichtung im Lied – vollkommen nachvollzogen

Dietrich Fischer-Dieskaus Hugo-Wolf-Interpretationen

      

Hugo Wolfs Mörike-Lieder bilden im Rahmen seines Schaffens zwar eine stilistische Einheit, die Vielfalt der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ist jedoch so unerschöpflich, daß ein Liederabend fast nicht ausreicht, um alle Höhen und Tiefen auszuloten. Fischer-Dieskau hatte für sein Wiesbadener Recital beim 3. Meisterkonzert im Kurhaussaal aber eine wohlabgewogene Auswahl getroffen. Die unterschiedlichen Szenen und Stimmungsbilder fügten sich zu einem geschlossenen Ganzen ohne die Breite der Spannweite außer acht zu lassen.

Aus vielerlei Gründen mag sich Fischer-Dieskau Hugo Wolf verbunden fühlen: Dem Komponisten war es in erster Linie darum zu tun, den gedanklichen Gehalt der Dichtung in der Musik freizulegen. Seine Hochachtung vor dem Werk des Dichters ließ es nur höchst selten zu, einzelne Textstellen zu ändern oder Worte zu wiederholen. Dichtung war für ihn unantastbar. Hinzu kommt, daß die vollkommene Kongruenz des Wort-Ton-Verhältnisses nur von einem intelligenten Sänger nachvollzogen werden kann, der die dichterische Vorlage ebenso zu erfassen weiß wie neben seiner Gesangsstimme den Klavierpart, der häufig als ein in sich geschlossenes Musikstück zu existieren vermag und zur Deutung des Textes oftmals entscheidend beiträgt.

Dietrich Fischer-Dieskau hat im Laufe der Jahre seine Kunst des Singens immer mehr verfeinert. Mag die Stimme im Volumen hier und da an Grenzen gelangen, die Schönheit des Timbres, ihr hoher ästhetischer Reiz haben sich unvermindert erhalten, ja sie treten zuweilen verstärkt zutage. Der Sänger kann auf eine vollendete Atemtechnik bauen, die mühelos große Bögen umspannt und damit auch die Verständlichkeit der gesungenen Phrase erhöht und steigert, wobei die Artikulation zuweilen ans Artistische (in des Wortes bester Bedeutung) gelangt, so hingebungsvoll werden Silben und Worte ihrem Gehalt nach ausgekostet und serviert.

Die Fähigkeit, Tönen wechselndes Kolorit zu verleihen, erbringt ungemeine Lebendigkeit. Fischer-Dieskau verfügt über eine unerschöpfliche Skala von Zwischentönen, eine Palette der schönsten Pastellfarben, denen kräftige Akzente gegenübergestellt werden. Und seine Kunst der leisen Abstufungen bis zum fast nur erahnbaren Pianissimo ist unerreicht.

Er sieht auch jedes einzelne Lied als eine geschlossene Einheit und gestaltet es zuweilen mit erstaunlichen mimischen und gestischen Zutaten. So aber gelingt es ihm, den Zuhörer spontan anzusprechen, ihn ganz in seinen Bann zu ziehen. Und man wird nicht müde, diesem Zauberer des Liedes zu lauschen, den unzähligen liebevoll ausziselierten Details. Oft ist es, als erzähle er eine spannende Geschichte, etwa die vom "Feuerreiter" mit der roten Mütze, wenn er die einzelnen Strophen mit dem Kehrreim äußerst wirkungsvoll gegeneinander absetzt, aber dennoch nie die Liedform ins Opernhafte ausweitet.

Einer so dramatischen Szene stellt er die getragenen Töne des Liedes "Um Mitternacht" entgegen. Mit breitem Atem hebt er an "Gelassen stieg die Nacht ans Land" – vorsichtig die Töne setzend, verhalten wie ein Selbstgespräch. Es ist eine vollkommene Identifikation des Singenden mit dem Text – ein Verebben in leisesten Tönen, die im Klavier wie leichte Wellen sich kräuseln.

Und hier ist es endlich an der Zeit von Jörg Demus zu sprechen, der die Intentionen Fischer-Dieskaus vorauszuahnen scheint und dabei trotzdem seine Eigenständigkeit bewahrt. Nicht nur, daß er pianistisch Vortreffliches leistet, etwa in der virtuos-frechen "Storchenbotschaft" – es gibt Lieder, wie z.B. "Begegnung", wo sich die Atmosphäre einer Sturmnacht mit solcher Plastizität im Klavier malt, daß der Sänger fast in die Funktion eines Begleiters gerät.

Nach der Pause präsentiert sich Dietrich Fischer-Dieskau vielleicht noch eine Spur gelöster. Er beginnt mit "Im Frühling", dessen dramatische Aufschwünge er überaus plastisch vor dem Hörer ausbreitet. Vollendet gelingt der Übergang ins Kontemplativ-Verhaltene, beeindruckend die bildhaften Ausdeutungen etwa "Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß", denen er sinnend nachzublicken scheint oder die geheimnisvolle Atmosphäre des Schlusses: "in golden grüner Zweige Dämmerung – alte unnennbare Tage". Bewundernswert auch, wie es ihm immer wieder gelingt, Zwischenspiele nicht als Überbrückung sich abwickeln zu lassen, sondern ungemein lebhaft mitzuvollziehen. Auf diese Weise gibt es keine leeren Takte, alles ist mit Spannung erfüllt ohne etwa pathetische Züge anzunehmen.

Am Ende zwei humorige Szenen "Zur Warnung" (mit bewußt heiserem Beginn die durchgezechte Nacht andeutend) und "Abschied" (der unsanfte Rückzug eines Rezensenten). Fischer-Dieskau zielt hier nie auf äußerliche Effekte und wenn er hier und da nicht darauf verzichten kann, werden sie so geschmackvoll angewendet, so ganz im Dienste an Komponist und Dichter, daß die Contenance stets gewahrt wird. Ein Lächeln bleibt zurück – nicht mehr.

Aus den gern gewährten Zugaben hob sich ein Lied leuchtend heraus: der Gesang Weylas über dem Wasser – "Du bist Orplid mein Land" – vollendet in Gestalt und Tongebung, im Erfassen der märchenhaften Atmosphäre, abgeklärt – introvertiert und dennoch innerlich ganz geöffnet.

Ingrid Hermann

       


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