Zum Liederabend am 14. November 1982 in Stuttgart

 

     Stuttgarter Nachrichten, 16. November 1982     

 

Ovationen für Fischer-Dieskau

Kulturleben Seite 25

  

Ungebrochene Gestaltungskraft

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Beethovensaal

     

Als Dietrich Fischer-Dieskau vor fast genau auf den Tag dreißig Jahren im Furtbachsaal sein Stuttgarter Debüt feierte, eilte diesem Ereignis schon damals der Ruf des Sensationellen voraus. Der 27 Jahre alte Sänger galt übereinstimmend als größtes Talent, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Konzertpodien Europas erschienen war. Seine Interpretationen der großen Schubert-Liederzyklen wurden als derart ergreifend und neuartig in ihrer sängerischen Diktion empfunden, daß selbst der nur um vier Jahre jüngere Hermann Prey es jüngst zugab, an seinem Talent zu zweifeln begann.

Inzwischen ist Fischer-Dieskau selbst zur Legende geworden, nicht nur wegen seiner Liedinterpretationen, sondern auch aufgrund seiner Bühnenerfolge. Dennoch mochten etwa mit Beginn der sechziger Jahre Stimmen nie verstummen, die den Sänger in Zusammenhang mit dessen Liedgestaltung der unangemessenen Theatralik, der übertriebenen Selbstdarstellung zeihten.

Zweifellos waren solche Gefährdungen auch bei seinem jüngsten Hugo-Wolf-/ Eduard-Mörike-Liederabend im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle nicht von der Hand zu weisen. Man darf fragen: Müssen die dynamischen Höhepunkte einzelner Lieder wie gleich zu Anfang im "Genesenden an die Hoffnung" der dynamisch sich steigernde Aufbau der Zeile ,,bis der Sieg gewonnen hieß" in derart schallendem Fortissimo in den Saal hinausgeschleudert .werden, wie dies allenfalls in Konfrontation mit einem 120-Mann-"Lear"-Orchester angebracht und dort auch begreiflich wäre? Durch derlei Kraftentladungen, so imposant selbstsicher und konzentriert sie auch vorgeführt werden, zerstört Dietrich Fischer-Dieskau ganz einfach die Proportionen des Kunstlieds, zugleich aber ändert dies nichts am überwältigenden Gelingen des Abends.

Denn was gestalterische Intelligenz, schlafwandlerisch sicheren Nachvollzug jeder Wort-Ton-Nuance und Subtilität des Rezitativischen anbetrifft, ist der Sänger auch heute noch nahezu ohne Konkurrenz. Probleme ergeben sich bei Wolfs Mörike-Vertonungen in Analogie zu Fischer-Dieskaus Fortissimo-Exaltationen immer dann, wenn er etwa wie "In der Frühe" die Spannung zwischen Wort und Ton zugunsten des Worts aufbricht, mithin der rezitativische Gestus den Musikausdruck dominiert.

Im übrigen aber sind die subjektivistische Deklamationslieder Hugo Wolfs dem Sänger auf den Leib geschrieben. Höhepunkte ganz besonderer Art waren die beiden "Peregrina"-Vertonungen, "Um Mitternacht" sowie "Lebewohl". Unübertroffen ist Fischer-Dieskau immer dann, wenn es in den Liedern auf Handlung ("Der Feuerreiter"), auf differenzierte Reflexion ("Neue Liebe") ankommt, oder wenn es gilt, Mörikes grandiosen Witz mit blendender Komödiantik darzubieten.

Glanznummern sind in diesem Zusammenhang die handfeste Rezensenten-Schelte im "Abschied" sowie die "Storchenbotschaft", bei der Fischer-Dieskau es sich nicht nehmen läßt, den davonfliegenden Störchen ebenso wie dem die Treppe hinabgestoßenen Kritiker schadenfroh nachzuschauen.

War noch zu Anfang Jörg Demus kaum mehr als ein nur dezent begleitender treuer Eckehart, so steigerte er sich im Verlauf des Abends immer mehr in die Rolle eines pianistischen Mitgestalters hinein.

Der Beifall im bei weiten nicht (!) ausverkauften Beethovensaal war orkanartig und animierte Fischer-Dieskau zu einem ausgedehnten Zugabereigen, der beziehungsreich, wie die ganze Programmzusammenstellung, das Publikum im letzten Lied "Nicht länger kann ich singen" aus dem "Italienischen Liederbuch" um gnädige Entlassung bat.

Helmuth Fiedler

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     Stuttgarter Zeitung, 16. November 1982     

     

Unter dem Patronat des Dichters

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau in Stuttgart

    

Selten sind die Konzerte, in denen alles zusammenstimmt: das Programm, die Ausführenden, das Publikum und nicht zuletzt der genius loci. Von dieser Art war der Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus, der, begleitet von Jörg Demus, in der Stuttgarter Liederhalle ein reines Hugo-Wolf-Programm sang: Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike. Allenfalls hätte man sich einen etwas intimeren Rahmen als den für derartige Veranstaltungen so ungemütlich großen Beethovensaal gewünscht. Doch hatte der Abend seine eigene, innere Art von Wärme und Erleuchtung, und die schien von keinem anderen herzurühren als von dem Dichter dieser Verse, dem weiland Professor der "Fräuleinslektionen" am Stuttgarter Katharinenstift. Es war, wie wenn Mörike selbst das Patronat über diesen gnadenreichen Abend übernommen hatte.

Nach wie vor im vollen, souveränen Besitz seiner stimmlichen Mittel, über zweieinhalb Oktaven hinweg ohne jegliche Schwachstelle, ein Sänger, der auch ein Rezitator sein könnte (und umgekehrt), steht Fischer-Dieskau heute im Zenith seiner Künstlerschaft. Ohne seine Erfahrungspraxis als Opernsänger zu verleugnen, bedarf er keinerlei äußerlicher Operngestik, um den von ihm ausgewählten Liedern die jeweils angemessene geistige Bühne zu bereiten. Allerdings sind seine Augen an seinem Singen ebenso beteiligt wie seine Stimme. Eben darum können alle seine Dutzende von Schallplatteneinspielungen niemals das Live-Erlebnis Fischer-Dieskau im Konzertsaal ersetzen. Ihn singen hören, heißt, ihn singen sehen. Die Vor-, Zwischen- und Nachspiele des Klaviers helfen ihm, die Stimmung des jeweiligen Liedes zu etablieren, die von seinem Gesicht in den Raum strahlt.

So viel ist über Fischer-Dieskaus Kunst des Singens geschrieben worden, über die Spannweite seiner Stimme, ihre Farbenfülle und ihre dynamischen Feinstabstufungen, über seine unvergleichliche Gestaltungskraft, der kein Detail entgeht, die den inhaltlichen Stellenwert jeder Pause, jedes Atemholens genau kalkuliert und diese intellektuelle Kalkulation dann wieder in dem spontanen Gefühlsstrom aufgehen läßt, daß, was immer man sich zu ihm einfallen läßt, längst zu einem Gemeinplatz verkommen scheint.

Und so seien hier nur ein paar Erinnerungsstichworte festgehalten: die geradezu melodramatische Suggestivität, mit der er den Feuerreiter an uns vorüberjagen läßt; die atemberaubende mezza-voce-Leuchtkraft, in der er die Morgenglocken des anbrechenden Tages beschwört ("In der Frühe"); die Walzerseligkeit, mit der er die Störche in den Himmel förmlich hineinkatapultiert; das augenzwinkernde Einverständnis mit dem Sturm, der heute nacht im offenen Stübchen gewütet hat ("Begegnung"); die salbadernde Offiziantenförmlichkeit, wenn da ihrer zwei miteinander kopuliert werden ("Bei einer Trauung"); die ausgedörrte Kehle nach durchzechter Nacht ("Zur Warnung" – Mörike, der Weinzahn!); der geradezu Hans Sachssche Schalk, mit dem er den besuchenden Kritiker (doch nicht etwa Sixtus Beckmesser?) recht unsanft die Treppe hinunterbefördert ... Stichworte sie alle eines Welttheaters der Intimität, der Selbstbescheidung, des Miniaturformats.

Wenn Fischer-Dieskaus Stimme in letzter Zeit noch eine Qualität zugewachsen ist, die wir früher noch nicht so ausgeprägt wahrgenommen haben, so ist es die eines herbstlich milden Glanzes, die ein irisierender Verklärungsschimmer umgibt. Ihre Projektionskraft ist so kraftvoll und so zielzentriert wie eh und je, doch wenn einen früher manchmal eine gewisse oberlehrerhafte Nötigungstendenz an seinem Singen störte, eine ein bißchen allzu aufdringlich penetrante Verfolgungsscheinwerfer-Regie, so scheint sein Singen heute durch eine neugewonnene Ruhe, eine gewisse Gelassenheit charakterisiert, die auf die eigenständige Selbstbehauptungskraft von Text und Musik vertraut.

Dabei könnte seine Partnerschaft mit dem Pianisten kaum korrespondierender sein. Immer wieder staunt man, welche geradezu Wagnerischen Orchesterfluten Jörg Demus aus seinem Flügel hervorbranden läßt (ohne je den Sänger zu überfluten). Und wird so immer wieder darauf hingewiesen, wieviel Hugo Wolf einem gewissen Richard Wagner verdankt. Aber auch darauf, wie sehr Mörikes poetische Komplexität seine komponierenden Zeitgenossen überforderte, wie sehr er in seinen Gedichten der Musikgeschichte vorausgeeilt ist, die ihn erst dreizehn Jahre nach seinem Tode eben in Hugo Wolfs genialem Mörike-Liederjahr eingeholt hat. Wenn es nach dem Publilkum gegangen wäre, hätte Fischer-Dieskau getrost alle dreiundfünfzig von Hugo Wolfs Mörike-Liedern (die paar vor 1888 entstandenen nicht gerechnet) singen können.

Horst Koegler

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