Zum Liederabend am 19. Juni 1983 in Bregenz

   


 

     Vorarlberger Nachrichten, Feldkirch (?),  21. Juni 1983     

Dietrich Fischer-Dieskau erstmals bei der Schubertiade

Ein großer Gestalter am Podium

     

Dietrich Fischer-Dieskau, gebürtiger Berliner, Jahrgang 1925, einst Heldenbariton der Berliner Städtischen Oper, wurde nach dem Krieg in vielen Dutzenden von Städten als einer der bedeutendsten Liedinterpreten seines Faches bekannt und gefeiert. Auch heute versteht er es noch immer, Schubertlieder mit einer Vokalregie zu gestalten, die er sich mit Akribie wissenschaftlich, literarisch und künstlerisch erarbeitet hat. Erstmals als Gast in Vorarlberg bei der Schubertiade Hohenems angekündigt, war das Interesse des Publikums am Liederabend Fischer-Dieskaus so groß, daß man das Konzert ins Bregenzer Festspielhaus verlegen mußte.

Der tief ins Werk Schuberts eingedrungene Interpret Fischer-Dieskau (sein Buch "Auf den Spuren der Schubertlieder" beweist es) wartet vor allem mit einer erlesenen Technik auf, die sein von hohem künstlerischen Intellekt geleitetes Organ trägt. Im ersten Teil des Abends bevorzugte der Sänger Schubertlieder, deren Texte um Einsamkeit, Trennung und romantische Todessehnsucht kreisen. Schon "Des Sängers Habe" (Text von Freiherr von Schlechta) ging von der Kontemplation des Einsamen aus, der alles aufgibt, Liebe und Freundschaft, nur seine Zither als Symbol seines Künstlertums behalten will. Schlegels Gedicht "Der Wanderer" wählt in mildem Verzicht schöpferisches Alleinsein zu nächtlicher Stunde. Und doch leitete dann in Albert Stadlers Gedicht "Der Strom" zu einem Verzweiflungston über, wenn sich das Leben in krausen Wogen murrend fortwälzt. Beim Anhören des "Zügenglöckleins" (nach Johann Gabriel Seidl) erheben sich bange Fragen. Das Gedicht "Freiwilliges Versinken" von Schuberts Freund Johann Mayrhofer, eine Rede an den allegorischen Sonnengott Helios, bringt Antikes ins Spiel, ebenso die furiose Darstellung "Gruppe aus dem Tartarus", ein Poem aus Schillers Sturm- und Drangperiode. Dazwischen fügte Fischer-Dieskau den erschütternden Dialog "Der Tod und das Mädchen" (nach Matthias Claudius) ein und stellte damit feinen Stimmungsnuancen starken Ausdruck und echte Dramatik gegenüber. Romantische Todessehnsucht verkündete Mayrhofers "Nachtstück", ein Hymnus von rhapsodischer Weite vom Tod des alten Mannes, und schließlich Craighers "Totengräbers Heimwehe", der sich sterbend fragt, wer wohl ihn begraben werde.

Im zweiten Teil des Konzertes lockerten einige balladeske Gesänge etwas auf, wie Karl Gottfried Leitners "Der Kreuzzug" oder "Des Fischers Liebesglück", wobei romantische Naturschwärmerei sich mit Heim- und Fernweh verbindet. Seidls bekanntes Gedicht "Der Wanderer an den Mond" leitete den Liedblock ein. Mayrhofers "Abendstern" griff wieder den Gedanken der Abkehr und der Einsamkeit auf. Johann Michael Senns "Selige Welt" weist schon hinüber in die Düsternis der "Winterreise", ebenso Ernst Schulzes Gedicht "Über Wildemann", dessen Titel sich auf ein Bergstädtchen im Harz bezieht und das musikalisch im stürmischen d-Moll dämonische Bezirke streift. Mit Friedrich Rochlitz’ "An die Laute" bot Fischer-Dieskau im Piano ein Kabinettstück besonderer Art, während Mayrhofers "Aus Heliopolis II" von leidenschaftlicher Empfindung sprühte,

Hartmut Höll war nicht bloß ein wunderbarer Begleiter des Liedgestalters, sondern auch ein berufener Schubertspieler und Interpret des oft sehr heiklen Klavierparts, der neben der Singstimme gerade bei Schubert manchmal stark in den Vordergrund rückt. Endloser Beifall im Bregenzer Festspielhaus zwang Fischer-Dieskau zu vier Zugaben, die den Abend um fast eine halbe Stunde verlängerten.

Dr. Erich Schneider

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     Zeitung und Datum unbekannt     

Schubertiade-Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau im Festspielhaus

Der Liederfürst und sein Sänger

   

Gemeint sind Franz Schubert und Dietrich Fischer-Dieskau. Sie beide sind eins geworden – das Genie und sein kongenialer Interpret. Aber das hat sich schon vor Jahren ereignet. 1948 gibt Fischer-Dieskau seinen ersten Liederabend in Leipzig. Ein Jahr später singt er in der Mailänder Scala, 1954 in Bayreuth und 1956 bei den Salzburger Festspielen. Seither zählt er zu den herausragenden Sängerpersönlichkeiten der Gegenwart und genießt Weltruhm – vor allem als Liedersänger. Bis zum vergangenen Sonntag mußten wir warten, um den unvergleichlichen Schubert-Interpreten in Vorarlberg erleben zu dürfen.

In zwei Jahren wird er sechzig. Sein Haar ist silbrig, sein Gesicht markant und eher blaß. Seine Gestalt – schlank und drahtig – wirkt elegant, wenn er raschen Schrittes die Bühne betritt. Ein gescheiter Sänger, ein intellektueller Typ ... denkt man. Oder ein sensibler? Beides? Er wirkt völlig ruhig, konzentriert. Nach einem langen, herzlichen Begrüßungsapplaus wendet er sich plötzlich entschlossen vom Publikum ab und dem Pianisten zu: und dieser beginnt zu spielen – vom Sänger magisch zu schönen Tönen inspiriert.

"Schlagt mein ganzes Glück in Splitter ... aber meine Zither nicht!". Das ist der natürliche, wild quellende Impuls Schuberts, zu komponieren. Er m u ß komponieren. Wenn Fischer-Dieskau dies singt, wird alles klar, verständlich und vernünftig: man versteht, was Schubert meint.

Selbst unbekannte Lieder gewinnen größte Gewalt. "Der Wanderer" nach Friedrich von Schlegel, den vorher kaum jemand beachtet hat, wird zu einem Wunder der Konzentration und Beschränkung. Sicher, die Stimme hat nicht mehr denselben Glanz wie vor 20 Jahren, aber die vollendete Beherrschung aller gesangstechnischen Probleme, die Verlagerung vom Sinnlich-Körperhaften zum Zeitlosen und fast Körperlosen ergibt eine neue Faszination Fischer-Dieskaus.

In den äußeren Maßen groß angelegte Gesänge wie "Gruppe aus dem Tartarus" beruhigen alle jene, die ängstlich ein Abfallen und Nachlassen des Sängerphänomens befürchteten und lassen erkennen, daß er noch ganz da ist. Er, der nicht nur den ganzen Schubert, sondern praktisch die ganze große Literatur des Liedgesanges vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart in seinem Repertoire hat, steigert sich sogar im zweiten Teil des Abends.

Seine Interpretationen vereinen virtuose Beherrschung der stimmlichen Mittel mit der Fähigkeit, alle Nuancen und den Stimmungsgehalt der vertonten Texte auszudrücken.

An diesem Abend singt er zwei Gruppen zu je neun Liedern. Da gibt es manches, was unvergeßlich bleibt: "Der Tod und das Mädchen" – voll Beklemmung und Angst; das "Nachtstück", wo der Alte seine Harfe nimmt und in den Tod schreitet; der "Abendstern", der in wenigen Tönen eine Welt der Liebe und Entsagung malt oder den filigranen Gesang "An die Laute", der im Mondenglanz und Blumendüften erklingt.

Am großartigsten ist er in den stillen Liedern, wie im "Kreuzzug" oder im "Zügenglöcklein" mit seinen bangen Fragen. Doch Fischer-Dieskau kann alles. Auch das Spektakuläre, das Theatralische, Balladeske und Komödiantische stellt er auf die Bühne. Aber immer mit dem Überblick des Beherrschten, Wissenden. Wenn er sich tragen läßt – von sich selbst oder den schönen Klängen des Klaviers – ist es so natürlich leidenschaftlich, daß man es glaubt. "Mein Leben wälzt sich murrend fort ... wird nimmer froh, wird nimmer heiter." Mit dramatischen Szenen aus Heliopolis II endet der Abend. Nein – noch kann er nicht enden. Der Beifall ist zu groß.

Es gibt vier Zugaben, von denen zwei wohl als Huldigung an den Bodensee zu verstehen waren – "Fischerweise" und "Das schöne Fischermädchen". Fischer-Dieskau umarmt seinen Klavierpartner Hartmut Höll, der, wissend auf den Spuren Schuberts wandelnd, ein herrlicher Begleiter gewesen war.

Urs Hauser

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