Zur Liedermatinee am 10. Juli 1983 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 12. Juli 1983     

Münchner Opernfestspiele

Die komplizierte Seele des Johannes Brahms

 Dietrich Fischer-Dieskaus Liedermatinee im Nationaltheater

    

Das Nationaltheater war überfüllt, an einem sonnigen Sonntagmorgen, wie er selbst hartgesottene Städter ins Freie zieht. Dietrich Fischer-Dieskau ließ sich zum Brahms-Jahr vernehmen: man wußte, spätestens seit den Aufnahmen sämtlicher Lieder und Vokalensembles, daß Gewichtigeres zu gewärtigen war als eine freundliche Matinee, die das herkömmliche Brahms-Bild bestätigt. Lieder von Brahms – das bedeutet gemeinhin kräftige melodische Bögen, geradliniges Empfinden, Erinnerung an den volkstümlichen Tonfall, knorrige Klavierbegleitung, etwas Männerträne und etwas Ingrimm. Der Fall scheint sonnenklar: Brahms gibt sich weniger differenziert als der Intellektuelle Robert Schumann, stellt die Melodie über das Dichterwort, hält sich gut konservativ an Schuberts Form und befleißigt sich redlicher Einfachheit.

Es kam anders. Dietrich Fischer-Dieskau und der übersensible junge Pianist Hartmut Höll fragten, wie differenziert Brahms ist, welch eine komplizierte Seele sich noch im scheinbar schlichten Strophenlied äußert und wieviele Nuancen der Verse der vermeintlich frischweg komponierende Brahms in Musik übertragen hat.

Fischer-Dieskaus Interpretation ging von der Region des Piano aus, freilich von einem so intensiv artikulierten Piano, daß jedes Wort im weiten Theater verständlich blieb. Die Lieder von Brahms sahen sich als Intimkunst verstanden, als zarte Realisierungen einer poetisch-musikalischen Vision, mitunter am Rande zu den Stimmungsbildern des Impressionismus. Das leise Versickern von Endsilben, die Übergänge ins Kopfregister und das wohlartikulierte Überhauchen mancher Passagen erschienen als legitime Mittel, die Brahmssche Grundstimmung der Resignation zu verdichten. Der Frankfurter Pianist Hartmut Höll war dabei ein empfindsamer Partner, vergleichbar Daniel Barenboim, der mit Fischer-Dieskau den Stil der vollends sensibilisierten Interpretation erprobt hat. Der Klavierklang blieb mehr an den späten Intermezzi als an der vollgriffigen Wucht des frühen und mittleren Brahms orientiert.

Das Programm war kurz und auf wenig bekannte Lieder abgestellt. Die gebrochenen Farben überwogen, die Zwielicht-Stimmungen, die Klagen um Verlorenes, die tiefernsten Heine-Vertonungen – "Meerfahrt" als Nutzanwendung auf Schubert -, die Ghasele von Platen und die verschleierten Naturbilder. Strophische Gesänge waren darunter, und Fischer-Dieskau zeigte, daß es in die Hand des Interpreten gegeben ist, die wiederkehrende Melodie so zu modifizieren, daß sie wie etwas Neues klingt. Jedes Wort kam zu seinem Recht, seiner Farbe, seiner (nicht nachweisbaren, aber spürbaren) Beziehung zur Gedankenwelt des Johannes Brahms.

Die geläufigen Brahms-Lieder folgten als Zugaben, vier an der Zahl. Vertrautes erschien verändert. Zugnummern hatten sich in gesungene Poesie verwandelt, nicht zuletzt wegen der langsamen, über die Taktstriche hinwegschwingenden Tempi. Wie oft hat man die Daumer-Vertonung "Wie bist du, meine Königin" gehört – wann war das Komma in der ersten Verszeile gliedernd mitgesungen worden, als Verdeutlichung des Sinns, nicht als kleine Gelegenheit, Atem zu schöpfen? Eines der schönsten Sommerbilder in der Musik, ein Inbegriff der Versunkenheit in der Natur wurde zu Schluß- und Höhepunkt der Matinee: die "Feldeinsamkeit". Es war die vollendete Definition des Begriffs Naturgefühl. Brahms als deutscher Vorklang des Impressionismus. Läßt sich Ruhe ruhiger ausdrücken?

Karl Schumann

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