Zum Konzert am 20. Juli 1983 in Ludwigsburg    


     Stuttgarter Zeitung,  22. Juli 1983     

Aufbruch zu neuen Horizonten

Dietrich Fischer-Dieskau und das Cherubini-Quartett in Ludwigsburg

     

Die Verbindung von Bartóks fünftem Streichquartett mit "Unrevealed" von Aribert Reimann bei den Ludwigsburger Festspielen kam nicht von ungefähr. Beide Komponisten sind fest in der Tradition verwurzelt und haben die Werte ihres erlernten Handwerks nicht zu den Akten gelegt, sondern modifiziert und damit auf ihre eigene Art gepflegt und aufgehoben.

Der Rang der Künstler im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses knüpfte auch auf der Ebene der Interpretation Bande zwischen Musikergenerationen. Über Dietrich Fischer-Dieskaus Stellung als Ausnahmekünstler Worte zu verlieren, hieße die bekannten Eulen nach Athen tragen, und obwohl er die Attraktion des Abends war, richtete sich die größere Neugierde zunächst auf das junge Cherubini-Quartett und seine Bartók-Interpretation.

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Somit übertraf das Cherubini-Quartett alle Erwartungen, und es lag an Bartóks Komposition selbst, daß sie nicht den Grad emotionaler Dichte erreichte, wie sie Aribert Reimann in "Unrevealed" bereits ohne Berücksichtigung des Vokalsolos von vornherein intendiert.

Hier frappierte das Ensemble aufs neue mit seiner Palette der Klangschattierungen, die schon im makellosen Ansatz des Bogens entstanden, um den jähen Stimmungsumschwüngen der Byron-Texte nahtlos folgen zu können.

Hier wirkte Dietrich Fischer-Dieskau, wie man ihn in letzter Zeit sicher nur selten gehört hat. Nicht der analysierende Textexeget, sondern ein echter leidenschaftlicher Sänger, der seiner Betroffenheit unmittelbaren Ausdruck gibt. Die Sanglichkeit, die Reimann in "Unrevealed" konzipiert hat, weitet Fischer-Dieskau Brust und Kehle, aktiviert ihn zu hinreißendem Legato und münzt seine Geistesarbeit in tiefgegründete Emotion um. Er findet gar keine Zeit mehr, textgezeugte Manierismen zu applizieren, da ihn Reimanns Auslegung des Byronschen Leidens derart fasziniert, daß er bei jedem Wort sichtlich erbebt. Sollten noch Spuren von Manieriertheit erkennbar gewesen sein, dann im "Letter to Augusta", der ein Licht auf die Problematik korrekten englischen Tonfalls warf, aber in Dieskaus hier tatsächlich etwas exegetischer Interpretation durch und durch britisch wirkte.

Nimmt man Fischer-Dieskaus Reimann-Interpretationen – dazu gehört auch "Lear" – als Maßstab, so möchte man behaupten, daß er den Boden klassischer Liedinterpretation hinter sich zurückgelassen hat und kraft seines stets bohrenden und suchenden Intellekts zu neuen Horizonten aufgebrochen ist.

Lászlo Molnár

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     Ludwigsburger Kreiszeitung,  22. Juli 1983     

Ludwigsburger Schloßfestspiele 1983

Künstler und Werk faszinierten

Fischer-Dieskau und Cherubini-Quartett im Ordenssaal

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Die Begeisterung unter den Zuhörern hielt im zweiten Teil des Programms an. Ein Verdienst in erster Linie des 1936 geborenen Komponisten Aribert Reimann, dessen knapp zwei Jahre alte Gesänge mit dem Titel "Unrevealed" zu einer aufmerksam, zum Teil auch mit Enthusiasmus aufgenommenen Begegnung mit einer sich durchsetzenden, auf Anton Webern, Alban Berg und in indische Kunst zurückführenden Musik führte. Reimann läßt das Quartett die Baritonstimme nicht begleiten, läßt den Text nicht illustrieren. Es sind Briefe, die die unglückliche Geschwisterliebe zwischen Lord Byron und Augusta Leigh bezeugen. Reimann setzt die Streicher zu eigener Gestaltung des tragischen Erlebnisses Byrons ein.

Die bei Bartók bereits erkennbare Intensität des Vortrags ließ auch in der Reimann-Komposition nicht nach, zumal in Dietrich Fischer-Dieskau ein idealer Gestalter des Wort- wie des Notentextes verpflichtet war. Ohne jede Ermüdungserscheinung, prägnant wie bekannt, und ausdrucksfähiger, als bei einem Sänger mit Silberhaar noch zu erwarten, verband sich die Stimme Fischer-Dieskaus mit den Instrumenten des Quartetts zu einer nur in Ausnahmefällen zu erlebenden Geschlossenheit von optimaler Wirkung. Die Zuhörer bezogen den von Fischer-Dieskau aufs Podium gerufenen Komponisten gern in ihren Jubel ein.

HJK

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