Zum Liederabend am 12. März 1984 in Ulm


Südwest Presse, Ulm, 14. März 1984

Fischer-Dieskau mit Brahms – Anlaß zur Meditation

Eindrucksvoller Liederabend im Ulmer Theater

Liederabende sind in Ulm rar geworden. Sie treffen angeblich nicht mehr den Publikumsgeschmack; das finanzielle Risiko ist groß. Und selbst wenn Dietrich Fischer-Dieskau, "Star" unter den Liedersängern, angesagt wird, ist auch das Große Haus des Ulmer Theaters nicht ganz ausverkauft. Doch wer das horrende Eintrittsgeld nicht scheute, erlebte einen großen Liederabend.

Dietrich Fischer-Dieskau, am Flügel begleitet von dem hervorragenden Hartmut Höll, sang Brahms-Lieder, ein programmatischer Anspruch, der abseits aller vordergründiger Attraktivität die geistige Reflexion in den Mittelpunkt stellte. Denn die Brahms-Lieder, ein Alterswerk des Komponisten, sind nur selten dazu geeignet, sich harmlos-heiter zu ergötzen. Sie sind vielmehr in ihrer Schwermütigkeit und herben Tonalität, ihrem oft düsteren Ausdruck und verschleierten Gefühlsüberschwang eher ein Anlaß zur Meditation. Selbst da, wo die Texte in naiv verkürzter Form Natur und Liebe schildern, das "Maienkätzchen" besingen oder die Blütenbäume in der Frühlings-Abenddämmerung, ist der melancholische Unterton nicht zu überhören.

Dietrich Fischer-Dieskau und seinem berühmten Interpretationstalent kommt dieses Liedwerk sehr entgegen. Jedes Lied wird bei ihm bei aller Emotion und aller Bravour zum Gegenstand einer geistigen Auseinandersetzung. Fischer-Dieskau schreibt: "Bei Brahms weitet sich der kleine Raum des Liedes zum überpersönlichen Bild der ganzen Natur." In diesem Sinn erklangen die Lieder: Voller Gefühl und Überschwang, immer aber neue Dimensionen öffnend, ohne die objektivierende Distanz zu verlieren.

Fischer-Dieskau vermittelte dem Publikum die Brahmsische Gefühlswelt mit meisterlicher Überlegenheit. Sein traumhaft sicheres Gespür für Text-Nuancen und Ton-Höhepunkte und die Farbenfülle seiner Stimme sind nach wie vor unübertroffen. Er vermag einen Text wie das Mörike-Gedicht "An eine Äolsharfe" zu modellieren und mit Atmosphäre zu füllen wie eine chinesische Tuschezeichnung. Er vermag aber auch das Bild eines Friedhofes (Liliencron) mit dramatischer Bewegtheit und in düsteren Farben zu schildern, ehe fast ohne Übergang der heitere Gruß an den Mai wie ein Frühlingswind davonweht. In solchen Momenten hält man den Atem an, sie allein machen schon den Genuß eines solchen Abends aus.

Am Flügel saß in bescheidener Zurückhaltung Hartmut Höll, dessen verinnerlichte Partnerschaft mit dem Sänger nicht darüber hingwegtäuschen darf, daß hier ein glänzender Pianist und sensibel reagierender Künstler sich in den manchmal etwas undankbaren Dienst des Liedbegleiters gestellt hatte. Mit etlichen Zugaben bedankte sich Dietrich Fischer-Dieskau für den reichen Publikumsbeifall.

Olaf Gööck

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