Zum Liederabend am 26. März 1984 in Stuttgart


     Stuttgarter Nachrichten, 28. März 1984     

Der Bildhauer der Töne

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau in Stuttgart

      

In seiner Anziehungskraft hat er kaum, in seiner Kunst nichts verloren. Seit gut 30 Jahren gilt Dietrich Fischer-Dieskau in aller Welt als der Interpret des deutschen Liedes schlechthin. Daß sich daran nichts geändert hat, das bewies jetzt sein um immerhin vier Zugaben (op. 32/9, op. 96/2, op. 33/9 und op. 106/1) erweiterter Kurzauftritt mit Brahms-Liedern im gut zu drei Vierteln besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle.

Es spricht für das Selbstverständnis und das künstlerische Problembewußtsein Fischer-Dieskaus, daß er sich sein Programm nicht aus den bekannten, gängigen Liedern des Komponisten zusammengestellt hat, sondern weitgehend unbekannte, selten zu hörende Stücke sang. Lieder, deren Herbheit und großflächige musikalische Anlage für Brahmsens Gefühlswelt entschieden zutreffender sind aIs etwa seine Vertonung von Eichendorffs "Mondnacht". Anders als bei Schubert und vor allem Schumann, die ihren Texten durch kleinste Figuren oder Tonartenwechsel musikalische Entsprechungen unterlegen, erschließen sich in Brahms-Liedern diese Gefühle nicht so einfach. Um so wichtiger, daß diese Lieder nicht durch übertriebene Süße und manieristische Pointierungen überladen werden.

Diese Gefahr ist bei einem Ausnahmesänger wie Dietrich Fischer-Dieskau nicht gegeben. Er findet für alle Situationen und Zustände den rechten Ton. Menschliche und künstlerische Erfahrung teilt sich da mit in den so ahnungsvoll gesungenen Passagen ;,nun weiß ich, daß ein Regenbogen" aus Kellers "Abendregen" und "Sinkt auf uns ein sel'ger Friede" aus Schacks Abenddämmerung" ebenso, wie man in Heines "Es liebt sich so lieblich im Lenze" das Glitzern der Wellen zu "hören" oder in der "Meerfahrt" des gleichen Dichters die Trostlosigkeit der beiden Liebenden zu "sehen" vermeint.

Fischer-Dieskau hat eine einzigartige Fähigkeit, Lieder vom Intellekt her aufzubereiten, ohne daß es deshalb der Wiedergabe an Emotion, an Gefühl mangeln würde. Dabei hilft ihm seine immer noch optimal sitzende, kleinste Regungen und Empfindungen nachvollziehende Stimme entscheidend, die er wie ein Instrument handhabt, sowie seine außergewöhnliche deklamatorische Präzision und Gestaltungskraft. Er formt die Klänge, färbt sie sensibel ein, je nach Stimmung und Notwendigkeit. Diese Stimme trägt aus der tiefen Lage bis in Falsetthöhe wunderbar leicht, ist raumfüllend im Pianissimo -mögen sich hier und da auch kleine Brüche bemerkbar machen oder der Schmelz etwas rauher" geworden sein. Wenn es das gäbe, man müßte Dietrich Fischer-Dieskau einen Bildhauer der Töne, der Musik nennen. In Hartmut Höll stand ihm ein außergewöhnlich klug mitdenkender und engagiert musizierender Begleiter zur Seite, der in den begeisterten Beifall eingeschlossen wurde.

Dieter Kölmel

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Stuttgarter Zeitung, 29. März 1984

Lieder wie Perlen aufgereiht

Fischer-Dieskau mit Brahmsliedern in der Stuttgarter Liederhalle

 

Etwas macht ihn uns verdächtig. Es ist das unbestimmte Moment einer außergewöhnlichen Stimme, das unser Bemühen um eine Erklärung von Dietrich Fischer-Dieskaus Faszination eher befriedigen würde als dieser genau nachvollziehbare, scheinbar durchsichtige Interpretationsvorgang, dieses kalkulierte Nachspüren des Textes. Fischer-Dieskau hat etwas von einem Magier, einem Zauberer, der seine Karten allen sichtbar offenlegt und sich dennoch einen Rest seines Geheimnisses bewahrt.

Dieses Geheimnis bewahrte er sich auch jetzt wieder in seinem jüngsten Stuttgarter Liederabend, obwohl er uns erneut einen reichen Blick auf die Schmuckauslage seiner Kunst werfen ließ. Eine halbe Stunde vor der Pause, eine halbe Stunde nach der Pause (unter den Zugaben ist das feinsinnige "Wie bist du, meine Königin" hervorzuheben) setzte er einen Farbtupfer an den anderen, ließ er einen Edelstein nach dem anderen funkeln. Wir werden Zeuge, wie Fischer-Dieskau zwanzig Lieder von Brahms zu kunstvollen Seelengemälden stilisiert, keine Miniaturen, großangelegte, romantische Landschaften. Der Sänger durchschreitet Stimmungen, die von Mörikes reflektierender, sinnierender "Äolsharfe" über grüblerische, umdüsterte Ahnungen in Schacks "Abenddämmerung" und Kellers "Abendregen" bis zu Liliencrons schwermütigen Friedhofsimpressionen reichen. Es fehlen auch nicht die extremen Gefühle, wie in Daumers wild zerrissenem "Nicht mehr zu Dir zu gehen", wo jede Fiber gespannt ist, oder Platens dramatischem "Wehe, so willst Du mich wieder".

Aber auch die kleinen, schlichten Tupfer hat Fischer-Dieskau auf seiner Palette, sei es ein humoristisches oder volksliedhaftes Liedchen, Goethes neckische, niedliche Serenate" oder sein lustiger Gruß an den Wein: Fischer-Dieskau läßt ein verschmitztes Bubengrinsen um seine Lippen sich kräuseln, wird gemütlich und gesetzt. Keine Gelegenheit für einen nachdrücklichen Akzent verstreicht ungenützt. Für Liliencrons tändelndes "Maienkätzchen" findet er Töne seigneuraler Abgeklärtheit.

Die Stimme scheint immer noch intakt, sie reagiert auf das Wollen des Künstlers, im Mezzaforte besser als im substanzlosen Piano, in der Mittellage reicher als in der Höhe. Die Tiefe hat eine fast kernige Rundung bekommen, wie sich andernorts bei Mozarts Konzertarien unter Harnoncourt schon andeutete. Die Übergänge, das messa di voce, sind gut realisiert, nur manchmal drängt sich der Sprechgesang zu sehr in den Vordergrund; ist die kantable, fein reagierende Linie gestört, werden Kontraste überzeichnet, Proportionen verrückt.

Wie kostbare Perlen auf eine Kette geknüpft, werden die Brahmslieder von Fischer-Dieskau nebeneinandergerückt. Manchmal scheint es, als habe er sie zu heftig aufpoliert, und sie haben dadurch ihren natürlichen Glanz etwas eingebüßt, wie Perlen, die nicht immer getragen werden.

Wie kaum ein anderer Interpret besitzt Fischer-Dieskau eine ihm treu ergebene Anhängerschaft, die den Beethovensaal füllte und sich am Schluß des Konzertes vor dem Podium drängte. Hier sei auch noch ein Hinweis auf die immer noch vernünftige Preisgestaltung erlaubt, die natürlich nur durch diesen großen Saal möglich ist. Im wesentlich kleineren Ulmer Theater fiel es den Veranstaltern kürzlich bei Preisen bis zu 58 Mark nicht so leicht, ihre Karten zu verkaufen.

Rolf Fath

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