Zum Konzert am 12. September 1984 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 14. September 1984     

Festwochen-Konzert in der Philharmonie

Schwer an Leid und Last dieser Welt getragen

     

Was Goethe 1827 schon von den Poeten meinte, kann auch für manche deutschen Komponisten von heute gelten. Sie "schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen von dem Leiden und Jammer der Erde."

Wolfgang Rihm tut das in seinem neuen Liedzyklus "umsungen", einem Auftrag der Festwochen, mit Worten Friedrich Nietzsches und der Stimme Dietrich Fischer-Dieskaus, umspielt unter Leitung von Arturo Tamayo vom Philharmonischen Oktett Berlin.

Rihm, früh zu Ruhm gekommen und immer noch erst 32 Jahre alt, läßt in dunklen Farben noch einmal musikalischen Expressionismus rauchen. Er umschwelt mit ihm die Nietzsche-Fragmente aus der Spätzeit. Abruptheit herrscht, das große instrumentale Stöhnen und Klage. Aber auch der vokale Vortrag wird derart aufgerissen, daß hie und da die Wortfetzen fliegen. Wieder einmal trägt Rihm schwer an Leid und Last dieser Welt.

Er macht eigentlich das, was Nietzsche "totenstillen Lärm" nennt. Doch diese Totenstille zuckt mächtig mit ihren Linien wie mit bloßliegenden Nervenenden und zerfällt unversehens in ein Dauerlamento, nicht fern mehr von Penetranz.

Dabei zeigen sich Rihms außergewöhnliche Handschrift, seine Originalität immer aufs neue. Als Zwischenspiel innerhalb des sechsteiligen Zyklus setzt es eine brillante Szene für Streichquartett, jeder gewissermaßen an jedermanns Gurgel, einen energisch vorgetriebenen, dichtgeflochtenen Satz. Das Philharmonische Oktett bediente Rihms Arbeit aufs beste. Fischer-Dieskau lieh ihr faszinierend seine herrenhaft überlegene Kunst.

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Klaus Geitel

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     Tagesspiegel, Berlin, 14. September 1984     

Außer sich und bei sich

Philharmonisches Oktett mit Dietrich Fischer-Dieskau

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Aus den "Dionysos-Dithyramben", aber auch aus anderen Nietzsche-Fragmenten vom Herbst 1884 in Sils-Maria hat sich Rihm die Texte zu seinen sechs Gesängen "umsungen" für Bariton und acht Instrumente zusammengestellt, die als Auftragswerk der Berliner Festwochen mit Dietrich Fischer-Dieskau und dem Philharmonischen Oktett zur Uraufführung kamen. Damit begann eine neue Werkreihe, denn auch in Zukunft wollen die Festwochen jährlich ein Vokalwerk mit Dietrich Fischer-Dieskau und Kammerbesetzung in Auftrag geben.

Umsungen wird in Rihms neuer Komposition das Problem der Identität, wobei der Text trotz seines im Vergleich zur Musik großen Umfanges keinen Anhaltspunkt bietet für den wahren Hintergrund solcher Ich-Problematik, die sich am Schatten, dem "ewigen Außer-mir", bloß entzündet. Eingebettet in Sätze in dem von Rihm bevorzugten Adagio-Zeitmaß bildet der sehr rasche dritte Gesang das Zentrum; Dietrich Fischer-Dieskau, der bis dahin den Text schlicht syllabisch sang, hatte hier die Worte "Selbstkenner! Selbsthenker!" mehrfach zu flüstern und zu schreien. "Selbsthenker" war auch ein wild-brutaler Quartettsatz überschrieben, bei dem es die von dem vorzüglichen Arturo Tamayo dirigierten Musiker an Einsatz nicht fehlen ließen. Dieser Satz, der wie alle anderen pointiert und ohne Abgesang schließt, bildet im zyklischen Ganzen, das vor allem durch die Textdramaturgie zusammengehalten wird, den Umschlagspunkt zu langsamem Tempo und starrer Resignation, wobei sich die Worte immer mehr in Einzelsilben zersplittern. Es schimmert dabei die Sprachproblematik des Lord Chandos durch, die im Sprachenbabylon der Neuen Musik eine realere Problematik ist als die Ichsuche. Trotz der vorzüglichen Aufführung und trotz der unbezweifelbaren Fähigkeiten des durch mehrere Werke mit Berlin eng verbundenen Komponisten bleibt das knapp halbstündige "umsungen" für mich ein in seiner Konzeption fragwürdiges, eher museales Werk, eine sorgfältig inszenierte Sackgasse.

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Albrecht Dümling

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