Zum Konzert am 23. Februar 1985 in Frankfurt


Frankfurter Allgemeine Zeitung, Datum unbekannt

Schurke oder tragischer Held?

Händels "Saul" in Frankfurt

Vor fünfzig Jahren beklagte der Musikschriftsteller Alexander Berrsche in einem Aufsatz zu Händels 250. Geburtstag die beschränkte Rezeption der Werke dieses fruchtbaren Komponisten: "Händel schien vier oder fünf Oratorien komponiert zu haben, ein paar Orchesterkonzerte, ein paar Orgelkonzerte und etwas Kammermusik: so sahen die Programme aus. Wußten die Musiker nicht, welche Schätze sie ungehoben ließen?" Diese Sätze könnten auch heute, anläßlich von Händels 300. Geburtstag geschrieben worden sein, denn wesentlich mehr als das, was hier aufgezählt wird, fungiert auch jetzt nicht auf den Konzertprogrammen. Bleibt zu hoffen, daß sich wenigstens aus diesem Jubiläumsjahr ein, wie es Berrsche formuliert, "Silberschimmer in den musikalischen Alltag hinüberretten" läßt.

Die beispielhafte Aufführung von Händels Oratorium "Saul" in der Frankfurter Alten Oper gab mit Sicherheit einen vehementen Anreiz, sich weiterhin in Händels Schätzen umzutun. Mit "Saul" hatte man sich für ein Werk entschieden, das in Händels kompositorischer Entwicklung einen aufregenden Wendepunkt markiert: Während die Popularität der italienischen Oper, der er sich ausgiebig gewidmet hatte, nachließ, erprobte er an "Saul" die dramatischen Möglichkeiten des Oratoriums, einer Gattung, die zu Händels Zeit durchaus nicht als Kirchenmusik verstanden wurde. In mancher Hinsicht überschreitet er im Oratorium dabei die Grenzen der Oper. Er löst sich etwa, wenn es die Dramaturgie der imaginären Szene erfordert, von der Form der Da-capo-Arie (frappierendstes Beispiel: Sauls Speerwurfarie, die einfach abbricht). Auch die Verwendung des Chors weist über die Oper hinaus; er übernimmt – in doppelter Funktion als Handelnder und Kommentator – eine tragende Rolle im "Saul".

Das Libretto von Charles Jennens freilich könnte als Opernvorwurf kaum bestehen: Gerade die Konturen des Titelhelden bleiben seltsam undeutlich. Sind Sauls Unglück und Untergang vorherbestimmt, weil Gott sich strafend von ihm abgewandt hatte? Oder beschwört er das Verhängnis selbst herauf? Ist er nichts weiter als hinterhältig und von Neid zerfressen, oder leidet er unter seiner Gottverlassenheit? Ist er also ein negativer Held oder ein tragischer? Dramaturgische Mängel sind es auch, die den Schluß abrupt wirken lassen. Nachdem die ausgedehnten Klagen über den Tod Sauls und Jonathans nachgerade überhandgenommen haben, erscheint die Wendung zum abschließenden Jubelchor über die Inthronisation Davids gewaltsam und im Grunde unmotiviert. Es versteht sich, daß derartige dramaturgische Unstimmigkeiten auch die Musik nicht unbeeinflußt lassen. Die Wucht und Überzeugungskraft des ersten (und umfangreichsten) Aktes wird von den beiden anderen Akten nicht immer erreicht. Gleichwohl bietet das Libretto Raum für alle musikalischen Ausdrucksbereiche, die Händel so vielfältig füllt – Instrumentalsolo wie mächtiger Chorsatz sind gleichermaßen souverän eingesetzt -, daß man das Werk gleichsam als Synthese fast aller Gattungen empfindet.

Als Problem der Interpretation pointiert Berrsche: "Es ist schwer, der ungeheuren Geräumigkeit Händelscher Musik gerecht zu werden, ohne zugleich die ausdrucksvolle Belebung aller Einzelheiten zu vernachlässigen." Helmuth Rilling ist in seiner Wiedergabe des "Saul" diese Gratwanderung zweifellos gelungen. Seine Konzeption ist geprägt von einer zügigen und lebendigen musikalischen Dramaturgie, die Bewegungstypen und Dynamik der verschiedenen Nummern zueinander in Beziehung setzt, damit größere Steigerungsabläufe aufbaut, ohne den Charakter der Einzelnummern einzuebnen. In ihnen wiederum wird diese Dramaturgie im Detail fortgeführt – eine Feinarbeit, die das gut disponierte Orchester, das Bach-Collegium Stuttgart, vorzüglich realisierte.

Der vielgerühmten Gächinger Kantorei kann man nur aufs neue außerordentliche Präzision und seltenen Ausdrucksreichtum bestätigen. Nicht nur, daß dieser Chor seiner bedeutenden, vielfach affektgeladenen Partie vollauf gerecht wurde, er ist offenbar auch so kompetent besetzt, daß die kleineren Solopartien bedenkenlos von Choristen übernommen werden konnten (Linda Horowitz, Werner Huck, Stephen Bronk, Winfried Toll, Markus Müller). Die Solisten der Hauptpartien, Julia Varady (Merab), Costanza Cuccaro (Michal) und Lutz-Michael Harder (Jonathan), verliehen ihren Figuren Charakter und Gesicht, so daß die Nähe des "Saul" zur Oper erneut deutlich wurde. Fischer-Dieskau etwa interpretierte die wenig dankbare Titelpartie mit einer Charakterisierungskunst, die Sauls Zwiespältigkeit schon in seiner ersten, durchaus harmlosen Szene erkennen ließ. Die Mezzosopranistin Mechthild Georg war als David kurzfristig für den erkrankten Counter-Tenor Kevin Smith eingesprungen. Ihr sanfter und sinnlicher David war eine überraschende Bereicherung der Aufführung.

Gisela Glagla

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