Zum Liederabend am 13. März 1985 in Stuttgart


   Stuttgarter Nachrichten, 15. März 1985   

Lyrische Psychogramme

Dietrich Fischer-Dieskaus Schumann-Abend im Beethovensaal

    

Zum Schluß war es, als verflüchtige er sich mit dem großen Decrescendo der beiden letzten der zwölf Justinus-Kerner-Lieder op. 35: "Und aus dem Traum, dem bangen, weckt mich ein Engel nur." Dietrich Fischer-Dieskau, der Lied-Darsteller des Jahrhunderts, füllte mit den zwei Schumann-Zyklen "Liederkreis" op. 39 und besagten Kerner-Liedern nicht nur den Beethovensaal mit Zuhörern, sondern provozierte deren Sensibilitätsreserven bis zum letzten Ton. Zusammen mit dem aus Heilbronn stammenden, in Stuttgart ausgebildeten Klavierpartner Hartmut Höll, mit dem zusammen er unlängst auch eine hinreißende Beethoven-Kassette der EMI (2 700 423) einsang, realisierte er Robert Schumanns hochromantische Literaturmusik als lyrische Psychogramme.

Fischer-Dieskau zählt zu jenen sehr wenigen Liedinterpreten (zu denen auch Christa Ludwig gehört), die mit untrüglichem Musiksinn und analytischem Literaturverständnis das Ton-Wort-Verhältnis vollkommen auszubalancieren verstehen. Und wo einst die schlank-schöne Stimme des nunmehr fast Sechzigjährigen dazuhin noch kulinarische Klangwonnen erzeugte, tritt nun die Artikulations-Virtuosität um so mehr dort in den Vordergrund, wo Fischer-Dieskau mit seinen dynamischen Nuancierungskünsten in leisen Bereichen die klingenden Ereignisse gestaltet. Da erlangen Wortsinn und dessen musikalische Umfassung faszinierenden Zusammenschluß; entstanden in der Liederhalle Stimmungseinheiten, die den Inhalt so ästhetisch erscheinen ließen wie die musikalische Form und Ausdrucksformulierung.

Im Gegensatz zu Franz Schubert, dem auch zu textlichen Nichtigkeiten musikalische Würfe gelangen, bedurfte Schumanns schöpferischer Impuls der schlüssigen literarischen Vorlage, was Fischer-Dieskaus Intentionen besonders entspricht. Und so erbrachte seine intellektuelle Fähigkeit, Liedverläufen gestalterisch minutiös und hochkonzentriert zu entsprechen, selbst dort noch Faszination, wo die Stimme in ihre Grenzbereiche gelangte, wo die technische Disziplin und verinnerlichte Kalkulation um so deutlicher wurde.

Hartmut Höll erwies sich erneut als Partner von höchsten Graden; eben nicht nur als neutraler Teppichleger, sondern als Pianist, der Kompositionsstruktur und Klang des Instruments dynamisch mustergültig, agogisch sinnfällig und somit ebenbürtig einzubringen verstand: eine wundervolle Gemeinsamkeit. Das Publikum wäre noch lange über die beiden Zugaben hinaus geblieben.

Dieter Schorr


   

   Stuttgarter Zeitung, 15. März 1985   

Auf Gratwanderung

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau im Beethovensaal

   

Mit Justinus Kerners Gedicht "Alte Laute" in der Vertonung von Robert Schumann beendete Dietrich Fischer-Dieskau seinen jüngsten Stuttgarter Liederabend. Dieses Gedicht gehört innerhalb des Kreises der zwölf Lieder opus 35 zu denjenigen, die keinen Umschwung, sondern die Einheit eines Stimmungsgehaltes markieren. Der Gehalt läßt sich genau fixieren als "banger Traum", ein Bild, das Kerner zweimal, in der ersten und der letzten Strophe, aufgreift. Diese Stimmungsregion wird dichterisch verwirklicht durch das Offene der Fragen: "Hörst Du den Vogel singen?", "Siehst Du den Blütenbaum?", und durch die Worte, die Vergangenes. avisieren: "Wehmut", "alte Laute", "vergangene Tage". Fischer-Dieskau fand in seinem Vortrag diese wehmütig-zwielichtige und dennoch einheitliche Stimmung. Naturschönheit als Topos der ersten Strophe war für ihn keine res facta wie etwa in dem Wanderlied "Wohlauf', sondern ein ungewisses, flüchtiges Empfinden, ein fraglicher Schein wie die Illusionen eines romantischen Gemäldes. Fischer-Dieskau tastete sich an den Versen entlang wie über einen Grat, der an den Untiefen eines jeden einzelnen dichterischen Wortes vorbeiführt. Er vergegenwärtigte nicht nur den Inhalt der Verse, sondern auch die Dichtungsart Kerners. Ähnlich gelang ihm das in besagtem Wanderlied, das nur bei isolierter Betrachtung schIechter Heimatdichtung ähnelt. Fischer-Dieskau erlaubte sich, dieses Lied, schon weil es auch bei Schumann in einen Zyklus eingeordnet ist, in frischem, vorwärtsdrängendem Ton darzubieten, alle Künstlichkeit im Gesang weit hinter sich lassend.

Deutlichkeit scheint ganz grundsätzlich oberstes Gebot für den Sänger zu sein. Gemeint ist eine Deutlichkeit im Festlegen des Gehalts der Dichtung. Freilich kann es dabei dann passieren, daß man zwar spürt, was der Sänger empfindet, dies aber nicht mit den Versen in Einklang bringt. In dem Lied "Wandern" etwa teilt Fischer-Dieskau seine Interpretation strikt nach den Topoi "wehmütig erinnernd" und "zuversichtlich hoffend'. Die innige Verwandtschaft mit Himmel und Erde am Schluß, die der Dichter fühlt, verträgt sich aber kaum mit offenem Frohsinn, und das Naturbild in der ersten Strophe verlangt zumindest eine Spur ästhetischer Lustbarkeit. Solche Polarisierungen des Gehalts betrieb Fischer-Dieskau im Liederkreis opus 39 nach Gedichten von Joseph von Eichendorff in viel stärkerem Maße, nicht immer zum Vorteil dieser in manchem noch weit abgründigeren Verse im Vergleich zu denen Kerners.

Überhaupt sang Fischer-Dieskau nach der Pause viel überzeugender, sicherer und einfach schöner. Sein Begleiter, Hartmut Höll, inzwischen einer der gefragtesten deutschen Liedbegleiter, hatte wohl nicht seinen besten Tag, wobei aber stets unklar blieb, wieviel zu Lasten des Flügels geht. Die Töne, die aus dem Instrument zu vernehmen waren, klangen oft mulmig und verschwommen, bisweilen sogar, etwa in der "Stille", zeigte sich Höll nicht ganz vertraut mit dem Zeitmaß, das Fischer-Dieskau wählte, so daß er - selten zwar - mit der Begleitung eine Nuance zu spät kam. Das aber; wertet man, wenn es sich nicht um pure Mißverständnisse handelt, als mangelnde Vertrautheit mit der jeweiligen Vortragssituation.

Richard Lorber

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