Zum Konzert am 5. April 1985 in München


     Süddeutsche Zeitung,  9. April 1985     

Matthäus-Passion ohne Tiefen-Dimension

Was Hanns-Martin Schneidt und der Münchner Bach-Chor dem Werk schuldig blieben

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Unter den Solisten war Dietrich Fischer-Dieskau als Christus Mittelpunkt. Anscheinend diesmal nicht ganz so gut bei Stimme wie jüngst, als er die ekstatische Unbeirrbarkeit des Gottessohnes, die Angst des Menschensohnes und die kreatürlich-natürliche Liedhaftigkeit der Gestalt überwältigend zu charakterisieren wußte. Gleichwohl: eindringlicher als Fischer-Dieskau es auch an diesem Karfreitag sang, ist das "Nehmet und esset, das ist mein Leib" kaum vorstellbar. Tief berührt etwa die seelische Kurve, wenn Fischer-Dieskau fast schmerzlich lächelnd beginnt: "Wahrlich, ich sage dir: In dieser Nacht" – und dann immer bitterer, herber wird "ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen". Alles das erklang überwältigend durchdacht, erfühlt, vielleicht manchmal ein wenig indispositionshalber im Forte forciert.

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Joachim Kaiser


     Abendzeitung, München, 9. April 1985     

Münchener Bach-Chor: Von Richter geprägt, mit Schneidt in die Zukunft

Kreuz-brav und gesund

Hanns-Martin Schneidt und die "Matthäuspassion"

    

Neu war vieles an dieser Karfreitags-Aufführung von Bachs "Matthäuspassion": der Leiter des Münchener Bach-Chors Hanns-Martin Schneidt, ein Teil der Solisten und manche Details der Interpretation (Kongreßsaal). Alt war die "liturgische Bedeutung des Werkes" und das Applausverbot, also die verordnete Ergriffenheit. Alt war wohl auch die Möglichkeit, in der Pause das Sterben Christi mit einem Glas Sekt und Eis mit flambierten Himbeeren aufzulockern. Wer wollte, konnte sich also Gedanken machen über Habitus, Ritus und Wahrheit.

Oder über die absolute Qualität der Bach-Musik, über das Verhältnis von Inhalt und Ausdruck, von Dramatik der Handlung und Kontemplation. Schneidt schien mir im zweiten Teil wesentlich intensiver, bei den Rezitativbegleitungen am Cembalo ließ er sich sogar zu ein paar zarten Verzierungen hinreißen. Die Teile folgten dicht aufeinander, Evangelist Lutz-Michael Harder entwickelte Temperament, und Dietrich Fischer-Dieskau konnte das verinnerlicht gemeinte, aber im Äußerlichen hängengebliebene Pathos vom 1. Teil in echte Intensität umwandeln.

Wo bleibt der jugendliche Biß?

Schneidt nimmt relativ bewegte Tempi, erzählt aber doch lange ziemlich kreuzbrav eine musikalisierte Geschichte. Den Chorälen fehlt das Entscheidende, was ihre Funktion über die kräftiger formaler Säulen hinausheben könnte. Auch das Inbrünstige der großen Chöre vertrüge einen Schuß mehr an Espressivo, das auch mit einer Steigerung der Piano-Kultur erreichbar wäre.

Der Chor selbst wirkt vom Material her rund und gesund, das Fahle und Schlichte, der blitzend jugendliche Biß fehlt ihm derzeit ebenso wie der Zauber des ruhigen Bogens. Es ist ein prächtig singendes Ensemble, aber ohne das Signum des Unverwechselbaren, Einmaligen.

Schimmernde Tiefgründigkeit

In dieses Bild einer geradlinigen, wenig hintergründigen Passion passen auch Solisten der zweiten Linie wie Andreas Schmidt (Baß), der vehemente, aber eingleisige Tenor Douglas Ahlstedt und der Varady-Ersatz Maria Venuti.

Von der herrlich runden und technisch makellos geführten Altstimme Doris Soffels sollte Schneidt noch mehr verlangen, nämlich jene Weltverlorenheit, die sie und Kurt Guntner mit seinem Violin-Solo in der "Erbarme dich" - Arie anstimmten. Da erreichte der Abend einmal die schimmernde Tiefgründigkeit, jene Sphäre, wo man als Hörer klein und nachdenklich wird und die Passion überwältigend.

Helmut Lesch

  

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