Zum Liederabend am 23. Juni 1985 in Feldkirch


     Vorarlberger Nachrichten, Hohenems,  25. Juni 1985     

Zwischen Traum und Realität

Schubertiade: Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau mit Liederzyklen von Schumann

     

Diese Überschrift mag den räumlichen Spannungsbogen der beiden Liederzyklen von Schumann umschreiben als Inbegriff romantischer Sehnsucht, veranlaßt den Rezensenten aber in diesem Zusammenhang unmittelbar, genau so treffend das Erlebnis eines unbeschreiblich schönen Liederabends zu benennen, das den Hörer zwingend in eine Traumwelt entführte und ihn sodann immer wieder der Auseinandersetzung mit der Realität überließ.

Es ist sehr zu begrüßen, daß die alljährlich stattfindende Schubertiade seit dem letzten Jahr nun fortlaufend vergleichende Kompositionen anderer Meister in ihr Programm mit aufnimmt, um damit auch ein Stück Hörerziehung zu betreiben und die musikalische Sprache und Individualität Schuberts in seinem künstlerischen Umfeld auszuloten. So konnte ein großes Publikum - die Feldkircher Stadthalle war voll besetzt - den 2. Liederabend Fischer-Dieskaus mit Enthusiasmus verfolgen, ein Liederabend, der ausschließlich Robert Schumann gewidmet war. Auf dem Programm standen der "Liederkreis" nach Gedichten von Eichendorff und die sogenannte "Liederweihe" nach Gedichten von Justinus Kerner.

Anders als Schubert schuf Robert Schumann sich seine literarische Vorlage viel bewußter, d. h., er stellte bewußt die Reihenfolge seiner von ihm beabsichtigten zyklischen Ordnung her und schafft so im "Liederkreis" nach Eichendorff einen geistigen Sinnzusammenhang, der zwischen Traum und Realität pendelt, der ähnlich wie in Schuberts " Winterreise" Entfremdung und Liebessehnsucht zum Thema macht. Nur daß hier bei Schumann die Liebe und damit der Mensch nicht abstirbt, sondern unter dem Fortgang der Zeit in die Traumwelt entrückt wird, dort wo "Traumeswirren" mit klaren Visionen sich abwechseln. Der Liederkreis nach Eichendorff, dessen Gedichte durch die Feder Clara Wiecks, seiner Verlobten, in seine Hände gefallen sind, geben sicher ebenso Kunde von dieser einzigartigen umkämpften Liebesbeziehung, und es ist kein Wunder, daß gerade dieser Liedzyklus eine musikalische Kostbarkeit nach der anderen enthält.

Ich möchte mir ersparen, die Interpretation durch Dietrich Fischer-Dieskau im einzelnen mit Worten zu umschreiben, denn dieses Stück echt gelebter Romantik, das der Sänger wie kein anderer transparent macht, entzieht sich analytischen Eingriffen. Schumanns Gesangskunst ist ja eher der Rhetorik verpflichtet als die Schuberts, der die musikalische Linie doch sehr absolut setzt. Und so kommt es gerade in der Interpretation Schumannscher Gesänge darauf an, jedem Wort sein Innenleben abzulauschen und greifbar lebendig zu machen.

Fischer-Dieskau schafft dem gesungenen Wort gleichsam eine räumliche Dimension, nicht nur Stimme und Atmung, sondern der ganze Mensch ist beteiligt, ist Gefäß und Medium zugleich. Hier spürt man kein sogenanntes Selbstbewußtsein, keine dargereichte schöne Stimme, das alles liegt hinter ihm, bei ihm spürt man eine unglaubliche Transparenz als erarbeitete Voraussetzung, um die differenziertesten Ausdrucksmomente nachvollziehbar werden zu lassen.

Schumanns Liederzyklus, op. 35, nach Gedichten von Justinus Kerner, einem Arzt und Dichter der schwäbischen Dichtergruppe, steht in der Popularität weit hinter Eichendorffs Liederkreis, jedoch was sagt das schon aus? Wenn ein Sänger wie Fischer-Dieskau Lied für Lied als unverwechselbare Kostbarkeit erschließt, dann spürt man, daß man an dieser seelentiefen schmerzerfüllten Welt Schumanns und Kerners wohl mitunter vorbeigelauscht hat. In dieser der" Winterreise" nahestehenden Zyklen übermittelten sich mit besonders einnehmender Spannung z. B. das Lied "Stirb, Lieb und Freud" oder in Schubert-Nähe "Erstes Grün" oder die magische Dimension des Liedes "Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes" - Kerner war ja auch ein Vorkämpfer der Parapsychologie -, des weiteren "Stille Tränen" mit seinem tiefempfundenen Nachspiel und zum Schluß das melancholische, fast leblos wirkende Lied "Alte Leute".

Der Liederabend mit Schumanngesängen, der mit fünf weiteren Zugaben einem begeisterten Publikum Rechnung trug, wurde nicht zuletzt durch den ausgezeichneten einfühlungsstarken Klavierpartner, dem jungen Hartmut Höll, zu dem, was er war. Mit der erschütternden Darstellung es Liedes "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" leitete der Sänger direkt zu Gustav Mahler herüber, dem der nächste Liederabend Fischer-Dieskaus am kommenden Mittwoch gewidmet ist.

Hans-Udo Kreuels

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