Zur Liedermatinee am 14. Juli 1985 in München


     Süddeutsche Zeitung, 15. Juli 1985     

    

Münchner Opernfestspiele 1985:

Das Schauerdrama der Winterreise

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll interpretierten Schuberts Liederzyklus

    

Dietrich Fischer-Dieskau, berühmtester und ausdrucksstärkster Liedsänger unserer Epoche, Hartmut Höll, ein junger hochsensibler Begleiter, den Fischer-Dieskau schätzt und jetzt immer wieder um Partnerschaft bittet; dazu; die "Winterreise", der unvergleichlich herrliche, gespenstisch aufwühlende Schubertsche Liederzyklus – mehr geht eigentlich nicht mehr. Da ist, auch am leuchtenden Sommermorgen, die Spannung so hoch, die Erwartung so begierig, die Vorfreude auf den Zyklus schauerlicher Lieder so unermeßlich, daß eine sanfte Enttäuschung die beinahe unvermeidbare Folge sein muß....

Und dann tritt eben diese Enttäuschung nicht ein! Dann macht Fischer-Dieskau, erstaunlich viel riskierend, eine werdende, lebendige Szene, ein komprimiertes Seelendrama aus beinahe jedem Lied. Man hört atemlos zu, mit seelischer Gänsehaut, starr beinahe vor Dankbarkeit, Schrecken – und unaussprechlicher Bewunderung für Schuberts Genie. Der viel zu schnell einsetzende Beifall war endlos.

Versuchen wir zu verbalisieren, in welcher Weise Dietrich Fischer-Dieskau die Lieder zum "Werden", zum "Entstehen" bringt. Das berühmte 20. Stück der Winterreise heißt: "Der Wegweiser", "Was vermeid’ ich denn die Wege / Wo die ander’n Wand’rer gehen" – beginnt es. Fischer-Dieskau fängt das in verhaltenem Parlando an. Nicht "tragisch"-schwer, sondern als schmerzlich ruhige, fast prosaische Selbst-Befragung. Dieses "Parlando"-Moment findet sich ja in manchen Liedern und Wendungen des Zyklus, etwa bei der absurden und fast verschämten Überlegung "Nun ja, die Post kommt aus der Stadt" (wenn der Wanderer sich sinnlos selig übers "Posthorn" freut) oder bei der tristen Bilanz: "Je nun, sie haben ihr Teil genossen", wenn die Träume der Dorfbewohner erwähnt werden, während unser Wanderer zu Ende ist mit allen Träumen.

Was der Sänger herstellt

Herrscht also im "Wegweiser" zunächst der traurige Parlando-Ton, so kommt in der zweiten Strophe ein herrlicher, glühender Herzensausdruck hinzu. "Habe ja doch nichts begangen / Daß ich Menschen sollte scheu’n." Setzt nach diesem emotionalen Aufschwung die dritte Strophe ein: "Weiser stehen auf den Straßen", dann fühlt jeder Hörer die Verzweiflung, das Entsetzen – eben auf der nun existierenden Grundierung des Vorhergegangenen. Und wenn dann – es ist eine Hamlet-Anspielung – von der Straße die Rede ist, "die keiner ging zurück", wenn Schubert auf diesem imaginierten Todesweg zu einem Schicksals-Ton mindestens vier verschiedene Tonarten durchmißt: Dann hat Fischer-Dieskaus schwindelerregende Kunst hergestellt, was noch nicht "ist", solange es nur in Noten steht.

Der reif gewordene Künstler, der ohne Pause sang und in den Liedern 17/18 ein wenig angestrengt wirkte, aber wunderbar darüber hinwegkam, verschmäht naheliegende Wirkungen. Er hat keine Lautmalerei mehr nötig, wenn die Hunde um den alten Mann "knurren". (Früher ließ er das anklingen.) Er nimmt nun auch, da er alles in allem trefflich bei Stimme schien und sich keineswegs pedantisch um Korrektheit bemüht, die "Cantilenen" ins gehauchte Pianissimo. Als wären es Träume vom Glück, die sich in Selbstgespräche vor dem Tod einmischen. Die Forte-Ausbrüche dann kommen donnernd und klar. Und immer noch findet er Neues, zum Beispiel den Schluß der "Täuschung", den so noch niemand begriff.

Am Anfang wirkte der Begleiter Hartmut Höll, begreiflicherweise, etwas befangen, unfrei. Das erste Lied begann nicht "mäßig, in gehender Bewegung", sondern rasch, fast wie im Geschwindmarsch – endete freilich wunderschön: Höll kann Nachspiele und Übergänge ausdruckstief gestalten: "Der greise Kopf", die Überleitungen im "Frühlingstraum", die Choralanspielungen in den letzten Liedern: Da profilierte sich ein tiefsinniger Künstler. Manchmal ist sein Staccato zu spitz, unschubertisch zugespitzt, überspitzt. Das "Auf dem Flusse" sollte vielleicht noch bewegungsloser, passacaglia-hafter (wenn auch im pp) anheben. Doch am musikalischen Rang und an der Ausdruckskunst dieses Pianisten waren am Ende wirklich keine Zweifel mehr möglich. So wurde eine Matinee zur Sternstunde.

Joachim Kaiser

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     tz, München, 15. Juli 1985     

Fidi mit der Winterreise

  

Dietrich Fischer-Dieskaus Liedermatinee im Nationaltheater ist schon zu einer guten Münchner Festspieltradition geworden. Wie groß die Nachfrage ist, war an den ungezählten, vor allem jungen Enthusiasten zu sehen, die mit ihren Zetteln "Karte gesucht" die Maximilianstraße säumten.

Fischer-Dieskau hatte Schuberts "Winterreise" Op. 89 nach Gedichten von Wilhelm Müller auf das Programm gesetzt – absoluter Maßstab für alle Liedinterpreten.

Nach dem außerordentlichen Erfolg mit Konzert-Arien Mozarts im fünften Festkonzert der Philharmoniker ("tz" berichtete) durfte man besonders neugierig auf diese Matinee sein. Es muß nicht mehr betont werden, daß dieser Sänger die Form des Kunstlieds bis in die letzten Tiefen ausgelotet hat, aber es gab eine Zeit, in der die stimmlichen Mittel dieses Meisterinterpreten sich nicht immer restlos in den Dienst des Ausdrucks stellen wollten.

Im ersten "Gute Nacht" kam es jetzt auch zu Pianissimostellen, in denen die Stimme noch nicht so recht tragen wollte. Spätestens aber in "Auf dem Flusse" war die Stimme voll da, und bei der berühmten "Post" gab es weder einen Verlust an Kraft noch einen Kampf mit der Höhe (freilich unter Aufwendung aller technischen Mittel).

Hartmut Höll war erneut der ideale Partner am Flügel. Höll ist so mit den Schattierungen und Nuancen Fischer-Dieskaus vertraut, daß er sich auf den Sänger einstellen kann, ohne den Klavierpart in eine reine Begleitfunktion zu verdrängen. Wie so oft, ging der "Leiermann" wieder besonders unter die Haut. Keine Zugaben. Ovationen.

Karl-Robert Danler

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