Zum Liederabend am 18. September 1985 in München


     Süddeutsche Zeitung, 21./22. September 1985     

Bilder der Vergänglichkeit

Fischer-Dieskaus Schubert-Abend im Münchner Herkulessaal

     

Bilanz – gewiß ein unschönes, buchhalterisches Wort, wenn es um Künstlerisches geht. Und dennoch stellt sich unabweisbar der Eindruck einer künstlerischen Bilanz ein, wenn sich der sechzigjährige Dietrich Fischer-Dieskau innerhalb zweier Wochen vier Liederabende mit dem Schwersten von Schubert, Schumann, Mahler und Hugo Wolf auferlegt. Kein Hauch von Schwanengesang, sondern überlegene Demonstration einer im Lauf der Zeit unendlich verfeinerten und gereiften Auffassung von Liedgesang; so jedenfalls konnte man den umjubelten Eröffnungsabend mit Schubert verstehen.

So ganz selbstverständlich ist das ja nicht. Fischer-Dieskau, der vielzitierte "Botschafter des deutschen Liedes", der nach Leonard Bernsteins Ausspruch bedeutendste Sänger unseres Jahrhunderts, mußte in den letzten Jahren viel herbe Kritik neben der gewohnten Bewunderung einstecken, mußte Zweifel an seiner Stimmkraft und Gestaltungstendenz hinnehmen. Vorläufiger Höhepunkt der Anfechtungen: Pünktlich zu Fischer-Dieskaus Sechzigstem wurde in einer Fachzeitschrift eine durchaus seriös gemachte kritische Würdigung veröffentlicht, die seinen von zugespitzter Artikulation geprägten Gesangsstil mit den nicht gerade feinen Epitheta "ejakulatorisch" und "spasmodisch" belegte.

Fischer-Dieskau, ein wortgewandter Apologet seines eigenen künstlerischen Schaffens, äußerte sich einmal recht selbstbewußt: "Ich habe meine eigenen Maßstäbe ... Die meisten Kritiker unterscheiden zu wenig zwischen den individuellen Gegebenheiten eines Sängers und einer Gesangslehre". Wie sind nun derzeit die stimmlichen "individuellen Gegebenheiten" dessen, der so große Worte so gelassen ausspricht? Bühnenrollen wie der Sachs, der Mandryka haben natürlich ihre Spuren hinterlassen an Fischer-Dieskaus Stimme, haben auch seine gestalterischen Mittel unüberhörbar geprägt (was der Schubert-Interpretation nicht immer dienlich war ...). Und leider auch lassen sich im Forte Verhärtungen der Stimmgebung und ein mitunter starkes Vibrato nicht überhören – was jedoch mehr als aufgewogen wird durch eine schier makellose Mezza-voce-Kultur. Fischer-Dieskau hat nicht nur seine eigenen Maßstäbe, er setzt in dieser Hinsicht auch weiterhin Maßstäbe für andere.

Weiterhin – doch wie lange? In Fischer-Dieskaus Schubert-Programm wies die stark motivisch geleitete Auswahl auf eine unübersehbare Tendenz, die nicht wenig über die Selbstreflexion des Künstler aussagte. Die romantischen Chiffren des Lebens (Wanderer, Fluß, Schiffer) wurden kontrapunktisch durchsetzt mit übermächtigen Bildern der Vergänglichkeit, mit Motiven des Endes und des Alters ("Fahrt zum Hades", "Der Tod und das Mädchen", "Gruppe aus dem Tartarus", "Greisengesang").

Dabei überwand Fischer-Dieskau jedoch programmatisch die scheinbar sich anbahnende Resignation vor der Vergänglichkeit auf der ihm gemäßen Ebene: "Des Sängers Habe", an die vorletzte Stelle der Liedfolge gesetzt, spricht vom Sieg der Kunst über die Zeitlichkeit. Fischer-Dieskau interpretierte hier die geisterhaften Schlußverse in geradezu entmaterialisiert wirkendem Piano: Der in seiner Meisterschaft höchst vitale Künstler, der im "Greisengesang" den Zwiespalt zwischen ergrautem Haar und blutwarmem Herz, zwischen äußerer Erkaltung und inneren Traumwelten fast genüßlich pointierte, kennt die zeitlose Gültigkeit seiner Kunst.

Fischer-Dieskaus Schubert-Kunst – von Hartmut Höll äußerst einfühlsam (und gelegentlich bescheidener als nötig) begleitet – zeugt von seiner völligen Unfähigkeit zur Oberflächlichkeit, von seinem unbedingten Willen, auch in zweitrangigen Liedtexten noch Tiefe und Nuancen zu entdecken. Differenzierung, Dramatisierung, Psychologisierung sind gängige und dennoch zutreffende Schlagworte, um das bisweilen an die Grenzen des Manierismus stoßende Verfahren dieses brillanten "Kunstliedgermanisten" zu charakterisieren. Von den ersten Takten des einleitenden "Wanderers" (Schmidt von Lübeck) an waren diese Tugenden geradezu überpräsent, wirkten stellenweise sogar überkünstlich, als Darstellungsmittel nicht restlos verschmolzen mit dem Dargestellten.

Gestaltungsbesessenheit kann jedoch Mirakel werden, wenn sie sich zur höchsten Form des Bewußt-Einfachen verdichtet. Den "Tod und das Mädchen" kann man wohl kaum ergreifend fahler interpretieren als Fischer-Dieskau, der schließlich, glücklich und gelöst, in fünf Zugaben mit befreitem Melos sein äußerstes Können aufbot. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob ich "Meeres Stille" noch jemals so bewegend hören werde wie an diesem Abend, während dieser Bilanz eines genialen Liedinterpreten.

Klaus Bennert

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     Münchner Merkur,  Datum unbekannt     

Des Sängers Größe und Gebrochenheit

Dietrich Fischer-Dieskau mit Schubert-Liedern im Münchner Herkulessaal

    

"Des Sängers Habe", der Titel eines von Schubert vertonten Gedichts des Freiherrn von Schlechta könnte als Motto über den vier Münchner Liederabenden stehen, in denen Dietrich Fischer-Dieskau Werke von Schubert, Schumann, Mahler und Wolf singt. Offenmbar will der 60jährige eine Summe aus seiner Beschäftigung mit dem Lied geben, etwas wie einen letzten Stand vorweisen. Sollte es am Ende ein Abschied sein?

Dieser Gedanke konnte sich einem aufdrängen, denn der erste Abend im ausverkauften Herkulessaal zeigte Fischer-Dieskaus Größe und seine Gebrochenheit. In der Gestaltung, seiner Fähigkeit, Musik und Text zu vergeistigen, erreichte er einsamen Rang, nur gehorchten ihm die Mittel nicht ohne Anstrengung. Seine bewundernswerte Technik drängte sich in den Vordergrund, verselbständigte sich gelegentlich, weil sie das Gelingen nicht ermöglichte.

Fischer-Dieskau sang 17 Schubert-Lieder – ein dunkel schattiertes, sorgfältig aus Bekanntem und weniger Bekanntem gebautes Programm. Zwei heimatlose Wanderer waren darin, der von Schmidt von Lübeck und der Friedrich von Schlegels; Mayrhofers "Fahrt zum Hades", Schillers "Gruppe aus dem Tartarus", Claudius’ "Der Tod und das Mädchen", Rückerts "Greisengesang". Zum Schluß dann, wie zur Aufhellung des Gemüts, Schlechtas von Trübsinn unangefochtene "Fischerweise".

Als er mit Schmidt von Lübecks "Wanderer" ("Ich komme vom Gebirge her") begann, konnte einem um Fischer-Dieskau bange werden. Er kämpfte mit seiner Stimme, die arg belegt war, intonierte zu tief. Das legte sich, doch blieb mehr als ein Rest von forciertem Forte, mattem Piano. Und seltsamerweise gelang ihm, der früher den Text fast überdeutlich artikulierte, Textverständlichkeit nicht durchgehend.

Heute kultiviert Fischer-Dieskau kaum mehr Manierismen. Jenes plötzliche Hervorstoßen von Tönen zum Beispiel ist sensibler Linie gewichen, Betonungen kommen zurückhaltender und damit genauer. Seine Ausdrucksmittel scheinen verinnerlichter – obwohl dann doch gelegentlich mehr der Eindruck einer Distanzierung als der von Identifikation entstand. Die gelang ihm vollendet erst im zweiten Teil, bei Goethes "Grenzen der Menschheit", dem "Greisengesang", der "Fischerweise". Ein paarmal konnte Fischer-Dieskau bildhafte Räumlichkeit herstellen. Als er in der "Fischerweise" an die Stelle "Dort angelt auf der Brücke die Hirtin" kam, bewirkte er durch Stimme und Blick, daß Entfernung spürbar wurde. Durch solchen Kunstgriff gab er seinem Liedgesang die Dimension des Szenischen, ohne dabei den Liedbereich zu verlassen.

Das Publikum bejubelte nebst Fischer-Dieskaus Magie und Meisterschaft den exzellenten Begleiter Hartmut Höll.

H. Göhl

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