Zum Liederabend am 20. September 1985 in Berlin   


 

     Tagesspiegel Berlin, 22. September  1985     

Zwischen Ideal und Wirklichkeit

Schubert-Lieder mit Fischer-Dieskau und Höll

     

Nicht mit irgendeinem Lied begannen Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll ihren Schubert-Liederabend in der Deutschen Oper, sondern mit "Der Wanderer" nach einem Gedicht des Schmidt von Lübeck. Dieses Gedicht war zu Lebzeiten Schuberts sein bekanntestes und meist verbreitetes. Die Ursache für solche Beliebtheit ist nicht allein in der musikalischen Qualität, sondern auch in der Textaussage zu sehen: die Unzufriedenheit des Wanderers mit seiner Umgebung, die ihn zum "Fremdling überall" macht, seine Suche nach einem Land, "das meine Sprache spricht", entsprach in der Metternich-Ära den Gefühlen vieler. Die Zeitgenossen bezogen Schuberts Lieder auf ihre düstere Gegenwart, sie erkannten viel leichter als heutige Hörer politische Anspielungen.

Dietrich Fischer-Dieskau versteht es wie kein anderer Sänger, seinem Publikum neben den Tönen auch den Sinn des gesungenen Textes zu vermitteln. Er tut dies durch Deklamation, Mimik, Hervorhebungen, durch den Wechsel der Stimmfärbung und des Ausdrucks vom scharfen Sprechen über das tonlose Raunen zum emphatischen Gesang, aber auch durch die Programmzusammenstellung. Indem der "Wanderer" mit Gesängen über Leben, Tod und Freiheit kombiniert war, wurde deutlich, daß das Wandern keineswegs wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen ist. Hinter den vertrauten poetischen Bildern verbirgt sich eine verschlüsselte Aussage.

Immer wieder standen in den Schubert-Liedern Realität und Wunschbild einander gegenüber, so im Lied über den finsteren Reiter, der zur unbeschwerten Schäferwelt keinen Zugang findet, oder im Lied vom Fischer, über den die Fische spotten ("sie fühlen, was die Freiheit ist"). Solche Gegensätze gestalteten die beiden Künstler, die seit 1981 zusammenarbeiten, mit bewundernswerter Deutlichkeit; wenn der Sänger vom schweren zum leichten Stimmtimbre überwechselte, wenn der Pianist an Stelle des unerbittlichen Klavierbasses delikat die Oberstimme akzentuierte, wandelten sich Welten, und in der Tat enthalten diese Gesänge schwere Konflikte, nicht zuletzt auch die fünf Lieder nach Texten des Schubertfreundes Johann Mayrhofer, der trotz seiner demokratischen Gesinnung in Metternichs Zensurbehörde mitarbeiten mußte und diesem schrecklichen Zwiespalt schließlich durch Selbstmord ein Ende setzte. Der große ruhige Gesang "Memnon", der von den "Sphären edler Freiheit und reiner Liebe" spricht, bringt die wahren Ideale Mayrhofers, aber auch Schuberts zum Ausdruck.

Während in der ersten Liedgruppe, die mit "Sehnsucht" (nach Schiller) großartig zusammengefaßt wurde, sich Ideal und Wirklichkeit immer wieder widerspruchsvoll gegenüberstanden, schien die zweite Liedgruppe eine Lösung für die zuvor angesprochenen Konflikte anzubieten. Wieder gab es ein Lied "Der Wanderer", diesmal allerdings auf einen Text von Friedrich von Schlegel; der Wanderer ist nun zufriedener mit sich selbst geworden, ohne daß man recht weiß, warum. Waren die zu Beginn angesprochenen Probleme also nur Scheinprobleme?

So bedeutend Gesänge wie "Gruppe aus dem Tartarus", "Grenzen der Menschheit" und "Greisengesang" auch sein mögen – sie besaßen für mich keinen wirklichen inneren Zusammenhang, sondern wirkten in der gewählten Reihenfolge wie veraltete Deklamationen. So stimmgewaltig und selbstbewußt Fischer-Dieskau auch "Des Sängers Habe" interpretierte, so zart dazu Hartmut Höll im Klavierdiskant den Klang der Zither imitierte, so wurde damit doch die bedeutungsvolle Vielschichtigkeit der ersten Liedgruppe nicht mehr erreicht. Alles war nun direkter und ohne Umwege beim Wort zu nehmen; an der Stelle politischer Metaphorik stand nun das Persönliche. Vielleicht meinte Fischer-Dieskau sogar sich selbst, wenn er zum Schluß mit schönster stimmlicher Lockerheit die "Fischerweise" sang: "Die Arbeit gibt ihm Stärke, die Stärke Lebenslust."

Stimmlich und gestalterisch allerdings war der Abend, bei dem Dietrich Fischer-Dieskau seine jahrzehntelange Erfahrung der Schubert-Interpretation fruchtbar einbrachte, ein Gipfelpunkt der Liedkunst. Hartmut Höll, so sehr er allen Intentionen des Sängers folgte, ging – auch in der Breite der dynamischen Skala – über die bloße Begleiterrolle weit hinaus und setzte eigene Akzente.

Jede der fünf Zugaben, die das begeisterte Publikum sich erklatschte: "Meeres Stille", "Der Einsame", "Geheimes", "Das Fischermädchen" und "Im Abendrot" besaß auch pianistisch ihre ganz eigene Farbe und Individualität. Nach diesem eindrucksvollen Auftakt darf man den angekündigten weiteren Abenden mit Schumann-, Mahler- und Wolf-Liedern mit großer Spannung entgegensehen.

Albrecht Dümling

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     Berliner Morgenpost, 22. September 1985     

Fischer-Dieskau

Philosophische Sängermonologe

    

Es war keine Premiere in Starbesetzung, und doch versuchten viele vor der Deutschen Oper Berlin noch eine Karte zu ergattern. "Nur" ein Liederabend und ausverkauft – da konnte nur Dietrich Fischer-Dieskau auf der Bühne stehen. Ihm huldigte seine Gemeinde schon, bevor er den ersten Ton gesungen hatte. Ihm und seinem Klavierbegleiter Hartmut Höll, den es hier gleichermaßen zu rühmen gilt. In ihm fand Fischer-Dieskau den Glücksfall eines Pianisten, einen Nachfolger Gerald Moores.

Höll findet genau die Mitte zwischen Anpassung und Eigenständigkeit. Er ordnet sich nicht sklavisch dem Sänger unter. Er setzt eigene Akzente, wo es die Musik verlangt, und trumpft doch nie vordergründig auf. Mit Schubert begann Fischer-Dieskau seine Reihe von vier Liederabenden in der Deutschen Oper.

Die 60 glaubt man ihm kaum, vom Aussehen her nicht, und wenn er singt, schon gar nicht. Fischer-Dieskau beherrscht unnachahmlich die Kunst, unabwendbare Verschleißerscheinungen der Stimme durch Gestaltung zu sublimieren.

Fischer-Dieskau wäre nicht er selber, wenn er sich lautstark feierte. Melancholie und Nachdenklichkeit bestimmten seine Auswahl von zumeist selten zu hörenden Schubert-Liedern. Vor allem im zweiten Teil des Abends verdichteten sie sich zu kleinen philosophischen Monologen, die in dem Goethe-Lied "Grenzen der Menschheit" ihren Höhepunkt erreichten. Hier, bei der Frage nach dem Sinn des Mensch-Seins, schien Fischer-Dieskau ganz subjektiv zu sprechen, etwas, was er sich sonst, nur dem Geist des darzustellenden Werkes verpflichtet, meist versagt.

W. Z.

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