Zum Liederabend am 3. Oktober 1985 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 5. Oktober  1985     

"... sonst sterbe ich"

Mahler-Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll

     

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau Mahler singt, setzt der Interpret den Weg des Komponisten fort. Die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn", die Achim von Arnim und Clemens Brentano, beide bereits als Sammler von Liedern ihrer eigenen künstlerischen Vorstellungswelt verpflichtet, Anfang des 19. Jahrhunderts herausgegeben haben, wurde von Gustav Mahler zu besonderem Umgang in Besitz genommen. Nicht nur, daß er aus dem großen Angebot das ihm Gemäße aussuchte – er stellte um und dichtete um.

Aus "Unbeschreiblicher Freude" wurde das Lied "Wo die schönen Trompeten blasen" – heiter ist nicht mehr heiter und die nächtliche Liebesbegegnung ("Wer ist denn draußen und wer klopfet an") von der Art, den Tod einzulassen. Indem aber Fischer-Dieskau eine Phrase wie "Das ist der Herzallerliebste dein" in der ersten Gedichtstrophe, die Mahler nahezu ungeändert vertont hat, wundersam changierend singt, stellt sich die erzielte Schönheit zugleich als verlorene dar.

Oder "Das irdische Leben" (Mahlers Überschrift zu einem Lied über das Kindersterben): Fischer-Dieskaus Wiedergabe intensiviert den Zug ins Allgemeingültige so, daß sein Fortissimo-Schluß – "Totenbahr" – den Anlaß eines Liederabends zu sprengen scheint. Alle hungernden Kinder dieser Welt sind gemeint: "Gib mir Brot, sonst sterbe ich!".

Die vielen Brechungen dessen, was als Volkslied angefangen haben mag und über Mahlers Kunstlied hinaus zum Appell an die Zukunft zu verstehen ist, zumal in den desillusionierenden Soldatenliedern, werden von Fischer-Dieskau geheimnisvoll mitvollzogen. An der Seite des Pianisten Hartmut Höll, der einen Widerschein der Kunst des Sängers auf glückliche Weise mit Eigenprägung verbindet (zum Beispiel im "verklingenden" Schluß des Liedes "Der Schildwache Nachtlied"), zeigte der Mahler-Abend den Interpreten Fischer-Dieskau nicht zuletzt stimmlich in großer Form. Das Ereignis hieß nicht allein, keine extreme Lautstärke zu scheuen, sondern auch mit einem Wort aus ihr zurückzukehren in die zartesten Regionen des Leisen, klingend alles, mit Bravo-Rufen des Publikums in der Deutschen Oper erwidert. Vier Zugaben.

Am 10., Oktober wird die Serie dieser Herbst-Konzerte Dietrich Fischer-Dieskaus und Hartmut Hölls, die zu den interessantesten Beiträgen der eben begonnenen Saison zu zählen ist, mit Liedern von Hugo Wolf in der Deutschen Oper zu Ende gehen.

S. M.

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     Berliner Morgenpost, 5. Oktober 1985     

Von feinsinnig blitzendem Humor

Deutsche Oper: Dietrich Fischer-Dieskau sang "Des Knaben Wunderhorn"

    

"Des Knaben Wunderhorn", diese große, zwischen 1806 und 1808 zusammengestellte und Goethe gewidmete Sammlung von Volksdichtung vom Mittelalter bis zur Romantik sollte nach dem Wunsch der Bearbeiter Achim von Arnim und Clemens Brentano dem deutschen Volk in schwerer Zeit als Trost, Erbauung und Vorbild dienen. Tatsächlich wurde die deutsche Lyrik seit damals von dieser Sammlung, in der sich Besinnliches und Skurril-Witziges, Praktisches und Mystisches auf merkwürdige Art vereinte, stark beeinflußt und kein Dichter, aber auch kein Musiker konnte an dieser Sammlung vorbeigehen.

Gustav Mahler wurde in seiner ersten großen Schaffensperiode magisch von den Wunderhorn-Gedichten, in denen Musik schon vorgezeichnet lag, angezogen. So schrieb er einen Wunderhorn-Liederzyklus für Gesangsstimme und Orchester. In seinen, später von anderen sehr vereinfachend als Wunderhorn-Symphonien bezeichneten Werken 2 – 4 verwoben sich Zitate aus seinen Wunderhorn-Liedern mit breiter, hochromantisher Symphonik und selbst in seiner Spätzeit ging Mahler immer wieder daran, Wunderhorndichtung zu vertonen.

Dietrich Fischer-Dieskau stellte in seinem dritten Liederabend in der Deutschen Oper Wunderhorn-Lieder aus verschiedenen Schaffensjahren Mahlers zusammen. Hier standen das frühe "Scheiden und Meiden" aus den Jahren nach 1880 neben dem späten "Revelge" von 1900 und gaben gleichzeitig einen Einblick in die kompositorische Entwicklung Mahlers. Fischer-Dieskau verlieh dabei vor allem den dramatischen, sich zur balladenhaften Szene verdichtenden Liedern deklamatorische Spannung.

So wurde das plakative Tralala im Soldatenlied "Revelge" mit fast brutaler Härte dargebracht, in das sich wie beinahe unbeabsichtigt ein unterdrücktes, ohnmächtiges Schluchzen einmogelt. Eine Meisterleistung sängerisch-psychologischer Durchgestaltung mit sparsamsten Mitteln. Ebenso packend die immer atemloser werdende Klage des sterbenden Kindes in "Das irdische Leben". Feinsinnig blitzender Humor in Stimme und Mimik dagegen in der souveränen "Fischpredigt" und "Um schlimme Kinder artig zu machen".

Dieskau demonstrierte in diesen, von ihm durchaus nicht auf stimmungsvoll romantischen Schöngesang angelegten Liedern Mahlers Weg in die Moderne, hin zu Zemlinsky und Schönberg. Ein ihm kongenial verbundener Begleiter ist der junge Pianist Hartmut Höll, der mit geschärftem Anschlag höchst differenziert und gleichfalls souverän dem Sänger steter Partner ist und dem Komponisten ein einfühlsamer Interpret. Erst nach vier Mahler-Zugaben ließ das begeisterte Publikum die Künstler ziehen.

Regina Leistner

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