Zum RIAS-Jubiläumskonzert am 7. Februar 1986 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin 9. Februar 1986     

Abenteuer "Winterreise"

RIAS-Jubiläum mit Fischer-Dieskau und Hartmut Höll

     

In einer Gegenwart, die Jubiläumsanlässe im Medienwesen gern trivial verschenkt, ehrt es den Berliner Sender, daß er sein Festkonzert "40 Jahre RIAS" am 7. Februar einem konzessionslosen Kunstanspruch widmete: Dietrich Fischer-Dieskau sang in der Philharmonie die "Winterreise" von Franz Schubert, 38 Jahre nachdem er sie für den RIAS, der die Aufnahme zu seinen historischen Schätzen zählt, zum erstenmal gesungen hatte. Und für Fischer-Dieskau selbst reicht das Abenteuer "Winterreise" natürlich noch weiter in die Jugend zurück.

Hellmut Kühn hat im Programmheft die imposante Reihe der RIAS-Produktionen mit Dietrich Fischer-Dieskau angesprochen, die 1948 unter der Betreuung des Redakteurs Ernst Rittel begann und Komponistennamen von Heinrich Schütz bis Aribert Reimann mit vielen eingeschlossenen Raritäten umfaßt. Das naheliegende Erinnerungskonzert aber befreite sich zum leuchtenden Ereignis des Konzertwinters 1986.

40 Jahre mit einem solchen Werk an der Spitze zu bleiben und dies hier und jetzt zu bestätigen, wie es tatsächlich stattfand, hat mit der genialen Neugier zu tun, die zu den Geheimnissen des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau gehört. "Muß selbst den Weg mir weisen / In dieser Dunkelheit" – eine Piano-Stelle im ersten Lied, die, so neu sie klang, als Interpretationskonzept für den ganzen Zyklus gelten kann: das Motiv des Wandernmüssens in der Isolation, die traurigste Musik des Komponisten, der keine lustige kannte, die vielleicht tiefste romantische Depression überhaupt, die in Töne gesetzt wurde – Fischer-Dieskau bewegte sich in ihrem künstlerischen Besitz, indem er sie mehr denn je sublimierte bis in die gestaltete Andeutung hinein; besonders dieses nach Georgiades "denkbar diskrete Andeuten von musikalischer Substanz" in der "Winterreise" schien mir in der Interpretation neuartig erfüllt. Es gelang ein Abend der innigsten Pianokultur, der in allen Lagen beherrschten gesanglichen Schönheit, die den Text Wilhelm Müllers in die musikalische Linie sehr geschmeidig einfügte, ohne ein Wort unbeachtet zu lassen: die "reiche" Braut, das "kalt" starrende Bild, "matt" zum Niedersinken, der "Greis" in dem Lied "Der greise Kopf", das offenbar bewußt mehr ins Allgemeine gestaltet war, als es früheren Aufführungen Fischer-Dieskaus möglich war.

Pianissimo nicht als Klangregie, sondern als Ausdrucksqualität des Zurückgenommenen – solche auf die Modernität Schuberts zielende Interpretation als eines Gustav Mahler vorangehenden Zeitgenossen der Zukunft konnte Fischer-Dieskau aber auch deshalb vorantreiben, weil ihm in Hartmut Höll ein Pianist von partnerschaftlicher Selbständigkeit assistiert, anpassungsfähig und unerbittlich zugleich, ein zweites Ich des singenden Wanderers in diesem Fall, dessen klares, unsentimentales Klavierspiel die gestalteten Zeitverläufe akzentuiert und trägt und mit der "rasselnden" Begleitung des Liedes "Im ‚Dorfe", die äußerlich die Ketten der bellenden Hunde meint, jene seelische Grundstimmung charakterisiert: "Ich bin zu Ende mit allen Träumen - / Was will ich unter den Schläfern säumen?"

Es bleibt erstaunlich, wie Dietrich Fischer-Dieskaus intellektuell geprägtes Singen immer wieder beinahe unschuldsvoll gefeit erscheint gegen alles, was sich an Materiellem und Pathetischem mit dem Begriff Lied-"Vortrag" verbinden mag. Es war mit allen Kontrasten eine nach innen und auf das Innere des Zuhörers gerichtete musikalische Rede, und der leiseste Ton erwies sich als tragfähig im großen Saal. Der Beifall reflektierte den überregionalen Rang des berlinischen RIAS-Festes.

Sybill Mahlke

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     Berliner Morgenpost,  9. Februar 1986     

Fischer-Dieskau singt zum RIAS-Jubiläum

Schmerzliche "Winterreise"

   

Die RIAS-Musikabteilung bat Dietrich Fischer-Dieskau, anläßlich des 40jährigen Sender-Jubiläums, in einem Festkonzert in der Philharmonie Schuberts "Winterreise" op. 89 zu singen. Mit diesem Werk, 1948 vom RIAS aufgenommen, begann die Zusammenarbeit des Senders mit dem Künstler.

Schuberts "Winterreise" ist eine Fahrt hin zum unausweichlichen Tod. In 24 Liedern nach Texten von Wilhelm Müller beschrieb der knapp 30jährige Schubert nichts als Trauer, Entsagung, Verweiflung, Isolation und Fremdheit. Die Welt, die gerade noch in den "Müllerin-Liedern" in strophiger Ordnung war, ist nun in der Eiseskälte des Winters erstarrt und mit ihr sind es die Menschen.

Fischer-Dieskaus Vortrag gibt gerade der Stimmung schmerzlicher Resignation tiefen Ausdruck, und so stehen die Lieder "Das Irrlicht", "Der Wegweiser" und "Der Leiermann" im Mittelpunkt dieser Grauen einflößenden Lebensreise. Fischer-Dieskau gestaltet jedes Wort bis in die letzte Nuance. Selbst große dynamische Bögen vermag er noch in ein einziges Wort zu legen.

Auch vor der großen Emphase des Aufbegehrens, die schon an die Grenze der stimmlichen Leistungsfähigkeit führt, scheut Fischer-Dieskau nicht zurück. Mit Hartmut Höll am Klavier hatte er einen Partner, der weder zu selbstbewußt auftrumpft noch zu bescheiden assistiert. Hölls sensible und klare Interpretation gewinnt dadurch eine gleichberechtigte Stellung neben dem Gesangspart. Begeisterter Beifall dankte für eine höchst konzentrierte, hochvergeistigte Wiedergabe der "Winterreise".

R. L.

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