Zum Liederabend am 22. April 1986 in Karlsruhe


    

     Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe, Datum unbekannt     

Große Liedkunst mit der Geistersprache des Gefühls

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll mit Liedern von Schumann im Karlsruher Brahms-Saal

     

Wenn es plötzlich im Brahms-Saal raschelt, ausgerechnet während eines der zartesten Lieder, oder mittendrin eine Tür quietscht, geht dennoch kein Deut der unerhörten Konzentration verloren, mit der Dietrich Fischer-Dieskau jeden Teil des Heine-Liederkreises op. 24 und der "Dichterliebe" op. 48 von Schumann gleichsam durchlebt. Die knisternde Spannung, die sich unter den Zuhörern ausbreitet, wie es selten genug in Karlsruhes Stadthalle vorkommt, ist das Ergebnis nicht nur der überlegenen Liedintepretation, die Fischer-Dieskau fast schon zelebriert, sondern auch einer charismatischen Erscheinung, deren bloßer Auftritt bereits neugierig auf des Künstlers Gesang macht.

Wie oft auch Fischer-Dieskau gerade jene Liedzyklen, zentrale Arbeiten im Werk Schumanns, schon gesungen haben mag: Routine ist ihm fremd. Es scheint, als entdecke er gerade die zauberhaften Schwärmereien und Zwischentöne der romantischen Gesänge aufs neue. Die "Geistersprache des Gefühls", von der einst Schumann sprach, ist in Fischer-Dieskaus Gesang auf Schritt und Tritt spürbar, paradoxerweise besonders auch dann, wenn er schweigt, nämlich während der Vor-, Zwischen- und Nachspiele des Klaviers. Da erfährt der Zuhörer aus den Gesten und den aufblitzenden Augen des Sängers, was die Phantasiefiguren des Dichters fühlen, leiden oder was sie glücklich macht.

"Da ist jeder Ton wie ausgetüftelt", sagt eine Zuhörerin ganz spontan. Gerade dies aber haben kritische Apostel der Liedkunst dem Künstler als Manierismus ausgelegt. Dabei ist es nicht in erster Linie scharfsinniger Intellekt, der die Überzeugungskraft des Sängers ausmacht, sondern vielmehr das Persönliche, die Identifikation mit den Charakteren der Gedichte, die Fischer-Dieskau seinem Publikum geradezu suggeriert. Das läßt denn auch manche Anhängerin des großen Liedsängers bei "Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht" oder "Wenn ich in deine Augen seh" unwillkürlich seufzen.

Für Schumann waren die Dichterverse nicht bloß Stimulanzien zur Komposition. Die Poesie steht in seinem Liedwerk vielmehr gleichrangig neben der Musik. Schließlich hatte der Meister sich erst spät zwischen der Laufbahn eines Dichters oder eines Komponisten entschieden. Fischer-Dieskau unterstreicht die Bedeutung des Dichterworts noch durch penible Aussprache und verschmitzte Schauspielerei. Den "Riesen der Wildnis" sieht man in op. 127 Nr. 3 förmlich vor sich, und wenn die bange Jungfrau darin flieht, blickt ihr der Sänger mit magischen Blicken hinterher.

Nach wie vor hat der Bariton Fischer-Dieskaus enorme dynamische Reserven, die Forteklänge tönen standfest und energisch, sein Pianissimo ebenso beherrscht wie ausgeglichen. Selbst das Quäken und Schreien der "schmutzigen Leute in Lappland" aus op. 45/3 wirkt äußerst kultiviert und wohlklingend. Ausgesprochen "wunderschön" wie der Monat Mai im ersten Lied gelingt Fischer-Dieskau indes der Zyklus "Dichterliebe" op. 48, in dem sich der Sänger an den Gemütsbewegungen, der Wehmut und Schwelgerei, die Schumanns Musik mit erregten Klängen beschreibt, geradezu berauscht.

Hartmut Höll ist ein Begleiter der jüngeren Pianistengeneration, der Fischer-Dieskau mit zuverlässiger Technik und facettenreichem Klangsinn unterstützte. Sein illustratives, förmlich sprechendes Spiel trug maßgeblich zur Begeisterung des Karlsruher Publikums im Brahms-Saal bei.

Ulrich Hartmann

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     Zeitung und Datum unbekannt     

Schumann-Abend in Karlsruhe

Reife eines Sängerlebens

Großartiger Lieder-Vortrag von Dietrich Fischer-Dieskau

   

Routine ist ihm, trotz seiner rund 40jährigen Sängerlaufbahn, fremd; die andauernde Auseinandersetzung, die Infragestellung von Bewährtem gehört zur Grundhaltung des immer noch bedeutendsten deutschen Liedinterpreten. Dietrich Fischer-Dieskaus Schumann-Liederabend (nach Gedichten von Heine) bewies aber auch sein makelloses stimmtechnisches Vermögen, eine nahezu perfekte Ausgeglichenheit der Register. Seine Darstellung des Liederkreises op. 24 und der "Dichterliebe", schon seit vielen Jahren im Repertoire des Interpreten, zeigte im Vergleich mit früheren Auseinandersetzungen (auf Schallplatte dokumentiert) eine weitere Vertiefung des Ausdrucks, neben wunderschönen Phrasen auch Kälte und unbeugsame Härte (ein Verfechter des unreflektierten Schönklanges war Fischer-Dieskau nie), neue Nuancen des Ausdrucks gehören zu seiner Kunst ebenso wie die berühmte klare Deklamation.

Der Liederkreis op. 24 ist die erste Frucht des von Schumann so genannten "Liederjahres"; neben dem differenzierten Nachzeichnen von melodischen Liedern, der Dramaturgie der Klangfarben überwältigte die Differenziertheit des Ausdrucks, von der Resignation ("Schöne Wiege meiner Leiden") bis zur einfühlsamen Innigkeit ("Mit Myrthen und Rosen"). Zum Ereignis wurde die Interpretation der "Dichterliebe". Ebenfalls im Liederjahr entstanden, zeigt sich hier die Entwicklung der Schumannschen Liedkunst; unterstrichen wurde der zyklische Duktus durch das bruchlose Aneinanderfügen der Lieder durch die Interpreten. Schon im einleitenden "Im wunderschönen Monat Mai" ließ Fischer-Dieskau die unter der Oberfläche des Liebesverlangens durchscheinende Gefährdung erkennen. "Die Rose, die Lilie, die Taube" wurde trotz perfekter Legatotechnik nicht zum Virtuosenstück degradiert; zur abgrundtiefen Verzweiflung steigerte sich der Ausdruck bei "Ich grolle nicht".

Bewundernswert auch die Kraft der Stimme, die den nicht unproblematischen Brahms-Saal mühelos füllte. Hartmut Höll erwies sich als kompetenter Begleiter, den schweren Patzer im "Liederkreis" sollte man nicht überbewerten, doch konnte er – dies können nur wenige Pianisten – Fischer-Dieskau nicht immer Gleichwertiges gegenüberstellen; in der "Dichterliebe" blieben die Zwischenspiele und kommentierenden Epiloge oft blaß und nicht genügend durchgeformt. Tosender Beifall, vier Zugaben und die Erinnerung an einen großen Abend blieben.

Th. W.

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