Zum Konzert am 20. Juni 1986 in Feldkirch


Abendzeitung, München, 24. Juni 1986

Stimmgewalt für die nachtschwarze Bosheit

Schubertiade Hohenems mit Fischer-Dieskau, Harnoncourt und Kremer

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In diesem Jahr versuchten sich die "Schubertiade"-Veranstalter erstmals in der Feldkircher Stadthalle an der großen Oper. So anheimelnd das Laubengang-Zentrum von Feldkirch auch sein mag, die Stadthalle taugt nur bedingt für die Opernallüre.

Unter der staubtrockenen Akustik litt auch Nikolaus Harnoncourts konzertanter "Fidelio", der, merkwürdig gegen den heute üblichen Strich besetzt, zu einer Kuriosität wurde. Harnoncourt, ein oft umjubelter und doch recht verquerer, eitler Musiker, fummelte mit dem mäßigen Residenzorchester Den Haag an den überkommenen und bewährten Tempoauffassungen herum, beschleunigte das Rasche, dehnte das Langsame, sprengte durch Zwischentexte von Walter Jens die Dramaturgie: Der Triumph der Gattenliebe kam nicht so recht ins Jubeln.

Jens führt einen zweiten Rocco als Sprecher ein (Wolfgang Reichmann), eine kommentierende Rückschau des Gefängnsidirektors auf seine Amtszeit. Politisch gut gemeint ("wir spielten Blinde Kuh am Rande der Hölle"), schmalzt sich das Selbstbekenntnis dahin, hält mehr auf als zu nützen. Ein Fremdkörper.

Bemerkenswert Julia Varady als große Leonore. Fischer-Dieskaus Pizarro ist kaum mehr als der sympathische Versuch eines großen Künstlers, im Alter nochmals Stimmgewalt zu zeigen, doch für die nachtschwarze Bosheit dieses Politschurken hat er nur ein temperamentvolles vokales Poltern. Auch Peter Schreier als Florestan bleibt ein lyrisches Privatissimum - die große Qual eines Gefangenen im Biedermeierformat. Die richtigen Proportionen setzen Jan-Hendrik Rootering (Rocco), Krisztina Laki (Marzelline), Peter Jelotis (Jacquino) und Robert Holl (Minister)

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Helmut Lesch


     Vorarlberger Nachrichten, 23. Juni 1986     

Schubertiade: Harnoncourt dirigierte Beethoven-Oper konzertant

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Dem bedeutenden österreichischen Dirigenten, der schon längst das Charisma des aufregenden Neuerers besitzt, stand das renommierte Residenzorchester Den Haag, der Arnold-Schönberg-Chor Wien sowie eine exquisite Sängerschar der Weltstimmen zur Verfügung: Julia Varady (Leonore), Peter Schreier (Florestan), Dietrich Fischer-Dieskau (Don Pizarro), Robert Holl (Don Fernando und 2. Gefangener), Krisztina Laki (Marzelline), Peter Jelosits (Jaquino und 1. Gefangener), Jan-Hendrik Rootering (Rocco) und der Schauspieler Wolfgang Reichmann, der "Roccos Erzählung", die von Walter Jens verfaßten Zwischentexte, las. Zweimal wurde dieser konzertante "Fidelio" (Wiederholung der Freitagaufführung am Sonntagnachmittag) in der ausverkauften Feldkircher Stadthalle, die sich im Sommer zu einem extralozierten "Hohenemser Festspielhaus" zu entwickeln scheint, präsentiert.

"Es geht mir nur ums Musikmachen", hat Nikolaus Harnoncourt in einem Interview erklärt; und er, der unumstrittene Herold alter Musik und umstrittene Mozart-, Schubert-, Beethoven-, aber auch Johann-Strauß-Interpret, bekennt: "Für mich ist das Erarbeiten eines Werkes zugleich ein Auslöschen meiner Erinnerung an das Werk. Im Moment der Aufführung, nach der Probenarbeit, ist es für mich vollkommen jungfräulich. Das ist für mich immer eine Uraufführung. Und ich habe die naive Überzeugung, daß das Publikum das empfindet und dort mitgeht." Aber auch bei Beethovens "Fidelio" habe er im Grunde nicht das "Neue um jeden Preis" gesucht, sondern er habe einfach das Stück, die Partitur genau studiert, sich darum gekümmert, was von Beethoven und was von den Editoren stammt, und aufgrund dieser Arbeiten komme er natürlich auch zu einer ganz bestimmten Tempodramaturgie. "Das heißt, die Tempi sind für mich nicht isolierte Nummerntempi, sondern es gibt einen dramaturgischen Zusammenhang der Tempi untereinander."

Auch die Besetzung der Protagonisten Leonore und Florestan mit lyrischen Sängern (Julia Varady und Peter Schreier) und nicht mit (traditionell erwarteten) schweren "Wagner-Stimmen" besitzt für Harnoncourt eine musikalische Logik: Weil man jahrzehntelang den "Fidelio" auf Glätte - sprich undifferenzierte Forte-Wucht - getrimmt hat, konnten sich lyrische Stimmen in dieser Oper kaum behaupten (Ausnahmen etwa Patzack, der junge Dermota oder Elisabeth Schwarzkopf). "Ich will das, was mit sehr viel Intuition und mit sehr viel Wissen komponiert ist, klarmachen und zugleich in seinem Emotionsgehalt verstehen und verständlich machen. Das wirkt natürlich wie ein Aufbrechen - aber nicht im Sinne von 1816, sondern im Sinne von 1980." Und das beifallumtoste Ergebnis war dann auch eine zutiefst ehrliche und akribisch erarbeitete "Fidelio"-Interpretation Harnoncourts, die wegen gerade dieser geistigen Durchdringung der musikalischen Materie ungemein faszinierte und beeindruckte.

Das 1904 gegründete Residenzorchester Den Haag hat den Ruf eines europäischen Spitzenorchesters, konnte aber am Premierenabend (und auch beim Orchesterkonzert am Samstag - Rezension folgt) punkto Klanghomogenität (Bläser!) nicht ganz überzeugen. Harnoncourt verstand es aber meisterhaft, die Balance zwischen den Gesangsstars, dem ausgezeichneten Arnold-Schönberg-Chor Wien (Einstudierung: Erwin Ortner) sowie dem Orchester herzustellen. Der Dirigent setzte an den Beginn die traditionelle "Fidelio"-Ouvertüre, verzichtete aber auf die populäre Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 vor dem zweiten Akt. Dieser vor allem wurde von Harnoncourt mit praller Dramatik - trotz Statik der Sänger auf dem Podium! - erfüllt. Welch beinahe keusche Verinnerlichung in den ungewohnt langsamen Tempi der "Namenlose Freude", welch alle Barrieren der Unfreiheit niederreißender Glücksjubel des Finale, den Harnoncourt - wie stets ohne Stab - mit entfesselter Expressivität zelebrierte! Die Protagonisten: Julia Varady (Leonore) und Peter Schreier (Florestan) konnten dank Harnoncourts behutsamer Führung ihre kostbaren Stimmen so einsetzen, daß das lyrische Element voll zur Geltung kam, ohne dabei dramatische Akzente opfern zu müssen. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen Weltruhm als Opernsänger dem des Liedsängers nicht nachsteht, schien mir als Don Pizarro, ein Opernwüstling par excellence, stimmlich zu "edel". Die übliche "Schwärze" des Pizarro-Timbres ersetzte Fischer-Dieskau mit (etwas zu dicker) mimischer Präsenz, vor allem aber mit baritonaler Süffisanz. Robert Holl war in kurzen Auftritten der verläßliche Baß mit herrlichem Volumen, und die beiden jungen Sänger Krisztina Laki (Marzelline) und Peter Jelosits (Jaquino) sangen ihre Partien mit großer Innigkeit und künstlerischer Reife. Als große Entdeckung dieses Schubertiade-"Fidelio" kann wohl der deutsche Baß Jan-Hendrik Rootering als Kerkermeister Rocco gelten. Eine Stimme, die technische Perfektion mit Leuchtkraft und Sensibilität aufs glücklichste vereinigt: Der prominente deutsche Literaturfachmann und Schriftsteller Walter Jens hat für diesen "Fidelio" einen Text geschrieben, mit dem Rocco die Handlung bzw. sein Handeln in der Rückblende erklärt. Weil Walter Jens der Autor ist, besitzt "Roccos Erzählung" selbstredend literarische Qualität - und der bekannte deutsche Schauspieler Wolfgang Reichmann sprach die Confessio des menschlich-allzumenschlichen Kerkermeisters mit klangschöner, ergreifender Eindringlichkeit.

Dieser "Fidelio" in Luxusbesetzung, der aber vornehmlich als weiterer Markstein in der Karriere des unkonventionellen "Musik-Gurus" Nikolaus Harnoncourt zu gelten hat, wird als außergewöhnliches künstlerisches Ereignis in die Geschichte der Schubertiade eingehen.

Dr. Edgar Schmidt


     Neue Vorarlberger Tageszeitung, 23. Juni 1986     

"Fidelio": Sternstunde in der Geschichte der "Schubertiade"

     

Paradoxerweise nicht mit einem Werk Franz Schuberts, sondern mit Beethovens "Fidelio" erzielte die "Schubertiade" Hohenems am Freitag einen der größten und spektakulärsten Erfolge in ihrer Geschichte, eine Sternstunde, vergleichbar eigentlich nur mit der denkwürdigen Aufführung der "Unvollendeten" durch Karl Böhm und die Wiener Symphoniker 1978 in der Pfarrkirche von Hohenems (wo man damals noch "durfte").

Zentralfigur dieses vom Medien- und Besucherinteresse weit über unser Land hinausreichenden Ereignisses war Nikolaus Harnoncourt, der geniale österreichische Musikerneuerer und Entstauber liebgewordener Interpretationsdenkmäler. Jener Mann, der dadurch weltweites Aufsehen erregt hat, daß er kräftig gegen den Strich bürstet und den Leuten längst abgespieltes und abgedroschenes Repertoire sozusagen "im Sinne des Erfinders" als verblüffend "neu" vorspielt, zurückgeführt einfach auf das Originalmanuskript.

Ein Glücksfall zweifellos für die "Schubertiade" und für Vorarlberg, daß Musik-Guru Harnoncourt auf seiner Reise durch die Musikgeschichte zwischen Bach und Johann Strauß seinen allerersten "Fidelio" ausgerechnet hier verwirklichen wollte, nach eingehenden Studien in Archiven natürlich und einer Art geistiger Zurückversetzung in die Zeit, das künstlerische und gesellschaftliche Umfeld und die Gedankenwelt Ludwig van Beethovens. Was dabei erarbeitet wurde, war ein völlig entschlackter, spannender, aufregender "Fidelio", der mit keiner der vorliegenden berühmten Einspielungen großer Dirigenten vergleichbar ist, Vergleiche von der Wertigkeit her aber auch nicht zu scheuen brauchte.

Hochkarätige Solisten

Zur Umsetzung seiner Ideen am Beispiel "Fidelio" stand Harnoncourt ein hochkarätiges Solistenensemble zur Verfügung, das sich generell von den sonst üblichen Besetzungen mit schweren, heldischen Stimmen unterschied: lyrische Transparenz war angesagt mit einer (nach kurzer Anlaufzeit) traumwandlerisch sicheren Julia Varady als Leonore, einem trotz seines Rollendebüts an diesem Abend überlegen gestaltenden Peter Schreier als Florestan, mit dem schlanken, variablen Baß Jan-Hendrik Rooterings als Rocco, Krisztina Laki als beherzte Marzelline mit berückenden Spitzentönen und Peter Jelosits als Jaquino, dessen Tenorleistung vor allem als "Erster Gefangener" doch etwas unter den Erwartungen blieb, wenn man etwa einen Karl Terkal in dieser Partie noch im Ohr hat. Souverän dagegen Robert Holls "Zweiter Gefangener" und sein Don Fernando, während Dietrich Fischer-Dieskau als Don Pizarro nach einer eben überstandenen Erkältung manches mit Technik und Routine wettmachen mußte.

Eine reine Freude: Der Arnold-Schönberg-Chor aus Wien in der Einstudierung von Erwin Ortner mit einem packenden "Gefangenenchor" und einem Finale, das im Wettstreit mit dem Solistenensemble über weite Strecken den Zuschnitt des Schlußchors aus Beethovens "Neunter" hatte. Das Residenzorchester Den Haag gehört zwar nicht in die europäische Spitzenklasse, zeigte aber, abgesehen von Bläsertrübungen und ein paar kleinen Ausrutschern, insgesamt eine akzeptable Leistung.

Harnoncourt ging es aber auch bei diesem "Fidelio" nicht um klassisches Ebenmaß oder ätherischen Schönklang, sondern um dramatische Ausdeutung, die ihre Wirkung auch nicht verfehlte. Was in diese Interpretation allein an aufführungspraktischen Details steckt, an neu ausgehorchten Farben im Orchester, an der "Tempodramaturgie" im Spannungsverhältnis der einzelnen Musiknummern untereinander und an dynamischen Effekten läßt die Intensität erkennen, mit der sich der Dirigent seines Projektes angenommen hat.

Und da war schließlich noch der Einfall, die Text-Dialoge der Oper an diesem Abend durch eine gesprochene Rückblende in die Handlung, "Roccos Erzählung" des deutschen Literaturprofessors Walter Jens, zu ersetzen - durchaus nicht als Notlösung, sondern als wichtiges dramaturgisches Element, das den Handlungsaufbau und die Dichte der Vorlage nur unterstrich, aktuelle Bezüge zu heutigen Diktaturen herstellte und in dem Schauspieler Wolfgang Reichmann einen exzellenten Interpreten hatte.

Freilich löst solch radikale Abkehr von üblichen Normen nicht nur Gegenliebe und Begeisterung aus, sondern auch Diskussionen, wie sie am Wochenende unter Fachleuten und Publikum Gesprächsthema Nummer eins waren. Ist es etwa gut und richtig oder nur "Geschmackssache", den "Marsch" so schnell und das Duett "O namenlose Freude" so langsam zu nehmen, wie es Harnoncourt (als Steigerungsmöglichkeit auf das Finale hin) vorexerziert hat?

"Bravissimo"

Musik, die man ernst nimmt und mit der man sich auseinandersetzt - ist wohl das Beste, was Harnoncourt und was Beethoven in Feldkirch passieren konnte. Und das "Bravissimo" eines vorlauten Fans in den letzten Akkord der Oper hinein drückte das aus, was wohl die meisten empfunden haben dürften: Zeugen eines fast musikhistorischen Ereignisses gewesen zu sein, dessen Auswirkungen auf alle späteren "Fidelio"-Interpretationen maßstäblich und noch gar nicht abzusehen sind.

Fritz Jurmann


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