Zum Liederabend am 10. Oktober 1986 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 1986     

Hugo Wolfs Anspruch

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll im Herkulessaal

     

Das ist der Fluch der guten Tat: Dietrich Fischer-Dieskau hat seine Riesengemeinde in der Welt und erst recht in seiner zweiten Heimat München daran gewöhnt, nicht bloß gediegene Darbietungen zu erwarten, sondern Offenbarungen. Man besucht seine Konzerte wie Verkündigungen, wie Liedgottesdienste – mit dem direkten Vorsatz, sich erschüttern, "reinigen" zu lassen. Und wird dabei, seit Jahrzehnten, nicht enttäuscht.

Momente reiner Überwältigung fehlten auch dem höchst anpruchsvollen Hugo Wolf/Goethe-Abend nicht. Die auf jede Dichtungs-Nuance leidenschaftlich reagierende Intelligenz Wolfscher Text-Vergegenwärtigung kommt der rückhaltlosen Deklamationskunst Fischer-Dieskaus entgegen, wobei der Sänger keineswegs nur sensibel-zart reagiert, sondern manchmal so heftig rhapsodisch und im Rhythmischen bedenkenlos frei, daß der Klavierpartner höllisch aufpassen muß.

Fischer-Dieskaus emphatische und pointierende Aufmerksamkeit für jede Ausdrucksgeste Wolfs führte zu einer Fülle, ja Überfülle an Charakteren und Beleuchtungswechseln. Vor allem die bedeutungsgeladenen, hymnenhaften Gesänge ("Ganymed", "Prometheus", "Grenzen der Menschheit") bestanden mehr aus Einzelenergien als aus melodischen Verläufen, fast mehr aus expressiven Momenten als aus Perioden. Hatte freilich die komponierte Dichtung auf diesem beschwerlichen Weg die reine Höhe einer mystischen Ekstase oder Stille erreicht, dann fand sie in Fischer-Dieskau einen ernsten und verklärten Anwalt.

Trotzdem schien Fischer-Dieskaus Kunst – natürlich kommt die Stimme bei Fortissimo-Stellen jetzt rascher an ihre Grenzen – am überzeugendsten, wenn der Sänger relativ überschaubarere, strophenliedhaftere Kompositionen interpretierend bereichert, seelisch variiert, als wenn er da, wo Wolf schon gefährlich viel gab, noch mehr wollte ... "Anakreons Grab", die erhaben stolzen "Kophtischen Lieder", die drei Harfner-Gesänge beeindruckten am allermeisten.

Man sagt nicht zu viel, wenn man Dietrich Fischer-Dieskau als eine Weltinstitution für deutsches Lied, als einen Botschafter höchster Interpretationskunst rühmt. Da bleibt denn auch die Frage, ob er für seine Konzerttourneen einen gemäßen Klavierpartner besitze, keine Privatsache, sondern wird sozusagen öffentliches Anliegen.

Hartmut Höll ist ein empfindsamer, sicherer Klavierspieler, ein ungemein musikalischer Begleiter. Alles Langsame und Schmerzlich-Leise artikuliert er wunderschön, während schwerer Passagen oder Akkordhäufungen verliert er kaum je (abgesehen von ein paar Ausfällen der Linken) die Übersicht. Er hat an Gewandtheit gewonnen. Gleichwohl stellt er bei komplizierten langsamen piano-Verläufen manchmal keine hinreichend feste rhythmische Grundierung her ("Ganymed"), scheint das große Forte seine Schwäche zu sein. Wenn er mächtige Akkorde spielt, bleibt der Klang flach, zu ungenau abgetönt, fehlt die "Innenspannung", die Leuchtkraft. Fehlt also das eigentlich Pianistische, wie es Arrau so plastisch beherrscht und lehrt (und über das ein Michael Raucheisen, ein Gerald Moore auch verfügten). Mag sein, daß der Flügel nicht in bester Verfassung war und nur widerstrebend Farben hergab. Doch daß es Höll darüber hinaus an pianistischer Sonorität gebrach, an Anschlagsbeherrschung bei Sforzato-Akkorden, ließ sich nicht überhören. Es wäre schön und wichtig, wenn der Künstler, auf den Fischer-Dieskau setzt, sich alle Mühe gäbe, diese Schwäche mit Hilfe noch besser durchdachter Armhaltung und Grifftechnik zu bekämpfen. Beifall und Blumenspenden nahmen kein Ende. Wohlgelaunte Zugaben.

Joachim Kaiser

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