Zum Liederabend am 5. November 1986 in Frankfurt


     Frankfurter Neue Presse vom 8. November 1986     

Wie im Morgenglanz: Fischer-Dieskau und Höll

     

Allen Unkenrufen zum Trotz: Von seinen künstlerischen und stimmlichen Qualitäten hat der nun schon über 60jährige Bariton Dietrich Fischer-Dieskau nichts eingebüßt. Gerüchte, seine Stimme sei in der Tiefe inzwischen substanzlos geworden, in höheren Registern entweder forciert oder aber nicht mehr von tenoraler Weichheit, widerlegte der Künstler souverän mit seinem Goethe-Wolf-Liederabend in der Alten Oper Frankfurt.

Zur Seite stand ihm der vorzügliche Pianist Hartmut Höll, seit einigen Jahren bereits Dieskaus ständiger Partner bei Liederabenden. Gleich Dieskaus uneingeschränkt wandlungsfähiger Stimme ist Hölls Klavierstil auch auf engstem Raum noch akkurat. Niemals gibt er sich detailverspielt und selbstvergessen, sondern stets getreu zum gemeinsamen Vortrag und Charakter des jeweiligen Liedes. Wunderbare Momente gelingen den beiden, etwa in den mühsam sich dahinschleppenden "Wilhelm-Meister"-Gesängen: "Ach werd’ ich erst einmal / einsam im Grabe sein", eine aus zerknirschtem Herzen geborene, entrückte Vision (ganz im in sich zusammengefallenen Piano), die das Lied "Wer sich der Einsamkeit ergibt" beschließt. Oder das behutsame Aufblühen des Klanges "Wie im Morgenglanze" zu Beginn von "Ganymed".

Hugo Wolfs an Wagner geschulte dramatische Gestaltungskunst entfaltete dies großartige Gespann Dieskau/Höll besonders in den Balladen, etwa dem "Rattenfänger", "Grenzen der Menschheit", vor allem aber im "Prometheus", wo die Hoffnung "Sich des Bedrängten zu erbarmen" von sich in ihrer Wut steigernden Sekundreibungen und unerbittlichem Tempozuwachs nachhaltig getrübt wird. Man könnte so lobend fortfahren und fände kein Ende – das mag man eine Sternstunde der Musik nennen.

Sebastian von Lingen

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