Zum Liederabend am 28. Juni 1990 in Feldkirch

    

     Vorarlberger Nachrichten, 30. Juni 1990     

    

Schubertiade:
Zweiter Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau

     

Es bedeutet keinerlei Zurücksetzung für die Opern- und Konzertsängerin Julia Varady – auf die sich an diesem Abend so mancher gefreut hatte -, daß der mit Dietrich Fischer-Dieskau, ihrem Mann, geplante Duett-Abend wegen Erkrankung von ihr ausfallen mußte, aber dafür mit einem reinen Wolf-Abend von Fischer-Dieskau und Hartmut Höll in kostbarster Form ersetzt wurde. Man weiß ja nicht, wie oft dieser große Liederdarsteller noch im Stande ist, solche Kostbarkeiten zu verschenken. Ich sprach mit einem Konzertbesucher, dem ehem. Präsidenten der Stuttgarter Philharmoniker, der bereits 42 Jahre Fischer-Dieskau nachreist und die Meinung vertrat, daß in dieser Ausprägung der Liederkunst eine unerreicht hohe Dimension wegfallen wird und daß glücklicherweise heute, in einer Zeit der Wertverschiebung, solche Leistungen auf Tonträgern zu bannen sind.

Dietrich Fischer-Dieskau hatte, quer durch das Schaffen Hugo Wolfs, des größten Liederschöpfers des musikalischen Anbruchs im ausgehenden 19. Jahrhundert, eine Fülle vielfältiger und kontrastierender Inhalte zusammengestellt, zu Beginn die drei "Michelangelo"-Lieder, des weiteren Lieder nach Goethe, Eichendorff und Mörike, aus dem "Italienischen" und "Spanischen Liederbuch". Manchem Hörer, der die meist sehr tiefe Dimension der Texte (besonders Michelangelo, Goethe, Mörike) für sich noch nicht erschlossen hat, mag die homogene Kantilene vieler Schubert-Gesänge fehlen, sie hat in der Musikästhetik Wolfs einen entschieden sublimierteren Platz. Wenn man davon ausgeht, daß Hugo Wolf sich in beinahe einer symbiotischen Beziehung mit seinen Dichtern befunden hat, was sich auch darin dokumentiert, daß er selbst zu Beginn seiner Lied-Soiréen die Gedichtfassung vortrug, dann wird man eher verstehen, daß es die Brücke zwischen dem gesungenen und dem gesprochenen Wort schlechthin ist, in dem sich Artifizielles und gelebtes Leben die Hand geben. Von dem Gesichtspunkt her kann es keinen souveräneren Vermittler geben als Dietrich Fischer-Dieskau. Natürlich obliegt bei Wolf die Last der Materie oder besser der charakteristische Raum dem Klavier. Man kann hierin den pianistisch und gestalterisch erstklassigen Hartmut Höll nicht genügend loben. Denn er schaffte ständig die Farbtiefe, den suggestiven Klang und Rhythmuscharakter, auf dem sich die minuziöse und exaltiert-deklamierende Gesangskunst des Sängers entfalten konnte.

Es würde zu weit führen, wenn man in die einzelnen Gesänge hineinführen wollte, und könnte nur Stückwerk bleiben. Vielleicht nur so viel zu den Liedern, die vollends dem Leben abgelauscht sind und in köstlich ironischer Form den Hörer erfaßten: "Herz, verzage nicht geschwind" (Span. Liederbuch) oder "Ein Ständchen Euch zu bringen" (Ital. Liederbuch) oder "Der Jäger" (Mörike). Wenn dann am Schluß "Anakreons Grab" in erhabener geistiger Integrität erklang, wußte wohl jeder Hörer, welchen Besitz er mit nach Hause nehmen würde.

Hans-Udo Kreuels

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