Zum Liederabend am 13. November 1990 in Stuttgart

    

     Stuttgarter Zeitung, 15. November 1990     

    

Das Lied, welttheatralisch

Dietrich Fischer-Dieskau mit Schuberts "Winterreise" in der Staatsoper

     

Ach, sähe so doch der Alltag der Stuttgarter Liederpflege aus! Das Große Haus der Stuttgarter Staatstheater besetzt bis auf den letzten Platz (allerdings von Besuchern, die man sonst kaum in der Oper antrifft). Am Schluß endloser Beifall – und das, obwohl sich jeder klar darüber war, daß an Zugaben an diesem Abend nicht zu denken war. Die Kombination von Franz Schuberts "Winterreise" und Dietrich Fischer-Dieskau hat’s möglich gemacht – nur diese, denn für die beiden verbleibenden Fischer-Dieskau-Liederabende mit Werken von Schumann und Wolf gibt es durchaus noch Karten. Der Mann am Flügel, Hartmut Höll, Inspirator der Stuttgarter Hugo-Wolf-Gesellschaft, deren vielfältige Aktivitäten der laufenden Saison in dieser Lieder-Trilogie gipfeln, wird’s mit Skepsis registriert haben, eingedenk der sonstigen mühseligen Kärrner-Liedarbeit im viel kleineren Mozartsaal.

Schuberts trostlos-resignativer Liederzyklus zieht sich wie ein Leitmotiv durch die nun vierzigjährige Sängerkarriere Fischer-Dieskaus, der vor einem halben Jahr seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiern konnte. Wenn er ihn heute interpretiert, dann nicht zuletzt aus dem Erfahrungsschatz jenes anderen "Wanderers", den er so oft auf der Bühne dargestellt hat. So weitet sich ihm die monologische Intimität der Schubertschen Lebensbilanz zur imaginären Szene eines Welttheaters, das, von Schubert ausgehend, über Wagner bis zu Beckett reicht. Fischer-Dieskau, von jeher der Sprache in gleichem Maße verpflichtet wie dem Klang, singt heute die "Winterreise" weniger, als daß er sie inszeniert: als Prototyp eines deklamatorischen Stimmtheaters, zu dem auch die reiche Skala seiner mimischen Mittel gehört. Bei ihm transportiert nicht der Klang den Text, sondern er verfährt genau entgegengesetzt: die Sprache, der Text formt den Klang. Das ist eine Praxis, an der sich zwangsläufig die Geister scheiden.

Wo andere Sänger dem nahtlosen Fluß der musikalischen Linie vertrauen, ihm hier und da einen leichten Akzent aufsetzend, steuert Fischer-Dieskau seine Stimme durch ein Gewitter der gegensätzlichsten Emotionen, die bisweilen in ein und demselben Wort toben – etwa in der "Seligkeit" des "Frühlingstraums", dem Höll einen Klangteppich aus duftenden Blüten bereitet. Da bezaubert er in der zweiten Strophe des "Wegweisers" eben noch durch sein leuchtendes Piano, um dann mit seinem lospolternden "Verlangen" geradezu zu schockieren (im "Wirtshaus" inszeniert er einen ähnlichen Schock zwischen dem zweiten und dem dritten Vers). Ständig zucken die Blitze, die einzelne Worte in ein grelles Licht tauchen ("Wein auf meiner Hoffnung Grab"), gefolgt vom Grollen des Donners, zumindest aber wetterleuchtet es ständig in Fischer-Dieskaus Liedlandschaften, so daß man richtig froh ist, wenn Höll am Flügel in seinen Einleitungen oder Nachspielen ("Letzte Hoffnung") eine einzige Stimmung ein paar Takte lang durchhält.

Fischer-Dieskau ist ein superber Beleuchtungsregisseur. Immer neue Farben und Valeurs sorgen für reiche Abwechslung auch da noch, wo man sich bewußt ist, daß sein Tiefenregister inzwischen doch recht trocken klingt (während seine Höhe zwar nicht mehr den Glanz seiner jungen Jahre besitzt, aber noch immer durch ihr fahles Timbre fasziniert). Wenig Geschmack kann ich seinen herausgepreßten Überakzentuierungen abgewinnen, wie denn überhaupt seine Forcierungen einen ganz schön nerven können. Um so gebannter lauscht man seinen bis zur Tonlosigkeit zurückgenommenen Pianonuancierungen, besonders natürlich seinem Sichfallenlassen in die leere Stille der bei ihm geradezu Beckettsche Dimensionen annehmenden Trost- und Hoffnungslosigkeit des "Leiermanns".

Horst Koegler

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     Stuttgarter Nachrichten, 15. November 1990     

   

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll im Großen Haus

Grenzgänger der Gefühle

   

Der große alte Mann und das Lied. Man braucht den Namen nicht zu nennen, und trotzdem weiß jeder, daß damit allein Dietrich Fischer-Dieskau gemeint sein kann. Kein anderer Sänger hat in unserem Jahrhundert mehr für die Pflege und Verbreitung des Kunstlieds getan als er; kaum einer auch, der diese oftmals nur wenige Takte langen Miniaturen so zum Spiegelbild jäh wechselnder Leidenschaften und Gefühle zu machen verstand. 1948 hat Dietrich Fischer-Dieskau Schuberts 24 Lieder umfassende "Winterreise" auf Gedichte von Wilhelm Müller zum ersten Mal auf Schallplatte aufgenommen. Hört man ihn heute nun beim ersten von drei Liederabenden für die Hugo-Wolf-Gesellschaft im Großen Haus mit diesem Werk wieder, so läßt sich nicht leugnen, daß die dazwischenliegenden 42 Jahre auch an dieser Ausnahmestimme nicht spurlos vorübergegangen sind. Daß er (nach einer kurzen Einschwingphase bis etwa zum "Lindenbaum") immer noch souverän über seine enormen stimmlichen Mittel und Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, daß dieses wunderbare "Instrument" nach wie vor auf so emotionale Weise die intellektuellen Vorgaben umformuliert, vermittelt, gehört zu den schönsten Erfahrungen dieses großen, packenden, nachhaltig in Erinnerung bleibenden Liederabends.

Was vor allem verblüfft, anrührt, packt, ist die Erfahrung, daß Fischer-Dieskaus Auseinandersetzung mit diesen Liedern keine immer wieder abrufbare Routine kennt. Sein radikaler, bedingungsloser, manchmal die Grenzen der Manieriertheit streifender Umgang mit dem Werk ist mit seiner Persönlichkeit gewachsen. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Sein Ringen um die richtige Form und den richtigen Ausdruck graben tiefe Spuren in das musikalische Material. Archäologe und Psychologe in einem, legt Fischer-Dieskau Schicht um Schicht die Gefühle eines Menschen frei, dessen Ohnmacht, Verzweiflung und Lebensschmerz ("Wetterfahne", "Erstarrung", "Rast") er ebenso beklemmend glaubhaft Ausdruck zu geben vermag, wie er auch dessen Selbsttäuschung ("Irrlicht", "Frühlingstraum"), aber seine Sehnsucht hörbar macht ("Täuschung").

Ein Wanderer zwischen den Gefühlen, schlüpft Fischer-Dieskau bald in die Rolle des Betroffenen, dann wieder scheint er ein Menschenschicksal als Außenstehender zu verfolgen. Unbeteiligt bleibt er in keinem Fall. Erleben bedeutet hier für die Zuhörer Miterleben, Leiden wird zum Mitleiden. Fischer-Dieskau singt nicht allein Noten, Töne, Phrasen – mit bewundernswerter Legato-Kultur, Klangfarbengebung und einem tragenden Piano, das auch in fast nicht mehr hörbaren Bereichen den großen Raum mühelos füllt: die Inhalte selbst werden zu Klang.

Das ist nicht zuletzt aber auch ein Verdienst von Fischer-Dieskaus Partner am Klavier: Hartmut Höll. Hier von einem "Begleiter" zu sprechen, hieße das Maß der gegenseitigen Beziehungen und "Abhängigkeiten" zu ignorieren. Höll greift jeden Ausdruck, jede Nuance, jede Farbgebung auf, die der Sänger vorgibt, verleiht ihnen auf seine Weise bis in Betonungen hinein Nachdruck. Er setzt aber auch selbst Akzente, auf die der Sänger reagiert. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen, dieses perfekt aufeinander abgestimmte Wechselspiel machte die eigentliche Intensität dieses Abends aus. Kein Wunder, daß der große alte Mann des Lieds, nachdem der letzte Ton verklungen war, als erstes "seinen" jungen Begleiter in den Arm nahm; daß der wiederum "seinem" Sänger mit einer Rose dafür dankte, ihn auf dieser Reise begleitet haben zu dürfen, kennzeichnet das Maß an Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung zwischern den beiden. Auch für Fischer-Dieskau und Höll schien der Abend also eine besondere Bewandtnis gehabt zu haben: Vielleicht als Etappe auf einem langen Abschied.

Dieter Kölmel

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