Zur Liedermatinee am 18. November 1990 in Stuttgart


    

     Stuttgarter Zeitung, 19. November 1990     

Das große Drama des Liedgesangs

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schumann und Wolf in der Stuttgarter Staatsoper

[...]

Am Sonntag kamen sie wieder. Nicht nur zu Ehren der Hugo-Wolf-Gesellschaft wohl standen die Lieder dieses Komponisten auf dem Programm der Sonntagsmatinee. Vielmehr demonstriert Fischer-Dieskau hier sein endgültiges Verständnis vom Liedgesang, macht sich gleichsam zum Papst seiner Zunft, indem er lauter letzte Worte singt. Nichts beispielsweise in "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" ist da mehr zufällig, nichts intuitiv. Jedes zelebrierte Wort – oft verweilt der Sänger scheinbar endlos (endlos schön) bei Zentralbegriffen im Text – ist genau berechnet, jede einzelne Stirnfalte kalkuliert. Über "Ganymed" und "Grenzen der Menschheit" kommt Fischer-Dieskau dann zum "Prometheus", dem Selbstportrait Goethes als zorniger junger Mann. Hier muß der Sänger ausbrechen, um wutige Wörter zu schleudern, und der Sänger bleibt dem Poeten und dem Komponisten auch nichts schuldig – aber er singt, als habe er nicht nur die beiden, sondern auch sich selbst dabei durchschaut: mit einer Emphase, die nicht aus dem Herzen, die nur aus dem Kopf kommt, geht er die Vertonung an, und schnauft sich am Ende die Wut aus der Brust. Da bläst er die Backen auf und läßt die Luft durch die Kehle rasseln. Wo die Interpretation mehr sein will als die Komposition, mag mancher bisweilen nicht mehr folgen wollen. Das Publikum in der erneut bis unters Dach gefüllten Stuttgarter Staatsoper allerdings war schon lange vorher der Kunst des "vielgereisten Rattenfängers" verzückt verfallen.

Mirko Weber

(Anm.: Am Flügel: Hartmut Höll)

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     Stuttgarter Nachrichten, 19. November 1990     

Fischer-Dieskau / Höll mit Hugo Wolf im Großen Haus

Die Tiefenbewohner

   

Zunächst ein Kompliment an das Stuttgarter Musikpublikum – manchmal ist es einfach wunderbar. Gestern zum Beispiel, am Sonntag vormittag, im Großen Haus: Ungewöhnlich konzentriert und klug war es bei der Sache, hochmotiviert folgte es einem nun wirklich nicht einfachen Programm mit Goethe-Liedern (vom Winter 1888/89) von Hugo Wolf, die den, der hören will, herausfordert (auch heute) oder zumindest einiges zumutet.

Vor allem dann, wenn Interpretation nicht heißt, ein bekanntes Ding neu lackieren, sondern Ausdruck. Ausdruck aber dem Gedicht nicht von außen aufgesetzt, sondern aus dem Innern von Musik und Text. Wer hier allein als Gourmet hört, haust an der Oberfläche. Doch dem war nicht so: Plötzlich schien es nur noch Tiefenbewohner zu geben. Riesenbeifall, Bravi und Blumen für zwei Ausnahmekünstler – für Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll, die innerhalb einer Woche von Schubert zu Schumann sozusagen gewandert waren und am dritten Tag mit Hugo Wolf, um im Bild zu bleiben, den Gipfel erreichten: der Liedkunst nämlich, und also auch der singulären Veranstaltungsfolge der Internationalen Hugo-Wolf-Gesellschaft Stuttgart in diesem Herbst: "Das Lied – ein deutscher Beitrag zur Weltkultur."

Am Horizont erschienen, klug und sanft gemischt: "Frühling übers Jahr", das zarteste Liebeslied Wolfs; oder "Prometheus" ("Bedecke deinen Himmel, Zeus"), eine gleichsam orchestrale Tondichtung, deren titanische Dimensionen von Haß und Hohn Fischer-Dieskau mit Präzision des Gefühls und Intellekts sichtbar machte und Raum ließ für Sehnsüchtiges. In solchen, gleichsam granitenen Blöcken ("Ganymed"; "Grenzen der Menschheit") sprengten der Sänger und sein Pianist die Fesseln der Konvention: Das Lied, das einst mit Mozarts "Veilchen" das trübe Licht der Welt erblickte, tritt hier als musikdramatisches Ereignis in Erscheinung – der Sänger als Philosoph und Komödiant, als Erzähler und dramatische Person. Dietrich Fischer-Dieskau inszeniert jedes Lied mit der entsprechenden Figur: zum Beispiel der Alte, der sich, wehmütig, seiner Knabenspiele erinnert ("Der neue Amadis"); der Harfner ("Wilhelm Meister") in Gesängen äußerster Verlassenheit, am Rande des Wahns. Wörter wie Schlaf bekommen einen lautmalerischen Klang; virtuos blitzt der "Rattenfänger" ... Der Ton muß nicht immer schön sein: der treffende Ton zum Wort.

Wolf-Lieder sind nicht, wie bei Mozart und Beethoven, bei Schubert, Schumann und Brahms, für Stimme mit Klavierbegleitung konzipiert, sondern als Lieder für Stimme und Klavier. Der Sänger ist so wichtig wie der Pianist – und umgekehrt. Hartmut Höll ist ein Phänomen. Von der Imaginationskraft her steht er einsam an der Spitze der Lied-Pianisten. Er geht psychologisch vor. Das spielt sich jenseits technischer Fragen ab. Höll malt mit Farben, hört die fernste Ferne, er charakterisiert mit Rhythmus und Harmonie, mit Wechsel und Gegenüberstellung der Tonarten, er ist mit dem Sänger auf gleicher Höhe – ein Glücksfall: für das Lied, für die Hugo-Wolf-Gesellschaft – für diese Stadt.

Jürgen Holwein

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