Zum Liederabend am 3. Februar 1991 in Köln


     Kölner Stadtanzeiger, 5. Februar 1991     

Schubert expressit

Fischer-Dieskau zu Gast

     

Er ist zum Glaubensartikel geworden, an dem sich die Geister scheiden. Während ihm der eine Kritiker bescheinigt, er "deklamiert mit den Resten seiner Stimme", rühmt der andere sein "nach wie vor leuchtkräftiges Timbre" und den "stimmlich unvermindert souveränen Künstler". Die Rede ist von Dietrich Fischer-Dieskau, der mit Schuberts "Winterreise" das Publikum in der Philharmonie zu Beifallsstürmen hinriß, sich aber dennoch – ihm sei's gedankt – nicht zur Zugabe bewegen ließ. Was sollte man auch nach diesen vierundzwanzig pausenlos von Fischer-Dieskau und seinem Begleiter Hartmut Höll aneinandergeschweißten Liedern noch dreingeben?

Was die einen wohl zur besonderen Verehrung des Sängers treibt, mag die anderen vielleicht auch stören. Er ist immer auf der Suche nach einer textauslotenden Deklamation. Silbe für Silbe scheint er zu durchforschen, ob nicht hier noch ein Akzent, dort eine Färbung zugesetzt werden kann, die Schuberts musikalische Psychologisierung noch deutlicher, noch plastischer hervortreiben kann.

Die Kraft seiner Suggestion ist unbezweifelbar. Andererseits scheint mancher Passus übertrieben, wenn er in "Wasserflut" der als Spitzenton hervorgehobenen ersten Silbe des Wortes "kalten" in der Zeile "seine kalten Flocken saugen" ein gänzlich unnötiges Sforzato verordnet. Schuberts Melodik wird dadurch unterminiert, ja sie zerfällt im schlimmsten Fall.

Auch sehr eigenmächtige Crescendi, Decrescendi, Färbungen, so wenn im "Wirtshaus" bei der Stelle "bin matt zum Niedersinken" der M-Laut eine gedehnte nasale Klangbeimischung bekommt, wirken mitunter eher manieriert, überinterpretierend. Von wenigen resonanzschwachen Pianissimi abgesehen, ist Fischer-Dieskaus Stimme durchaus präsent, flexibel und (gelegentlich zu) wandlungsfähig.

Der Pianist, etwas behutsamer im Umgang mit selbst gewählten Zutaten, verfolgte mit Präzision und eingehender Beachtung des Willens des Sängers die Spuren des einsamen Wanderers klangschön und unsentimental.

bc

 

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