Zu den Konzerten am 3. und 6. Januar 1992 in Berlin


Berliner Morgenpost, 5. Januar 1992 

Triumph für Charles Dutoit an der Deutschen Oper Berlin

Fausts Verdammnis als gesungenes Liebesgedicht

Genialität, zusammengewürfelt. Eine Musik-Collage aus genialischen Fertigkeiten. Susan Sontags Theorie vom "Camp" als Kunst- und Kultform, dem bis an den Rand der Zerstörung gezielten Zuweitgehen des Schöpferischen, in Musik umgesetzt. das alles (und noch viel mehr) ist "Fausts Verdammnis" von Hector Berlioz.

Unter der magistralen Leitung von Charles Dutoit in der Deutschen Oper, mit Orchester und Chor des Hauses, zeigte es sich in einer grandiosen konzetanten Aufführung (die am Montag glücklicherweise noch einmal wiederholt wird), daß das Werk der szenischen Realisierung in der Tat durchaus nicht bedarf, so stark wächst es allein durch die Macht seiner irrlichternden Musikdramaturgie, krakenhaft geradezu, kulissen- und kostümlos in dramatische Szenen über und füllt sie bis zum Bersten. "Fausts Verdammnis", zurecht im französischen Original aufgeführt, gleicht einer Vision, die sich allein schon aus der Musik, ohne jede Zuhilfenahme der Bühne, aufs bestürzendste realisiert.

Dies freilich nur dank der immensen Imagination von Charles Dutoit, der vom Pult aus mit Verve und Akribie Berlioz nicht nur zum Singen, mehr noch beinahe zum Sprechen bringt: die Klangrede des Franzosen, geradezu verliebt in ihre Kurven, hörbar macht, ihre typisch erzfranzösische Rhetorik, die wundervollen instrumentalen Zwiesprachen, von denen das Werk geradezu überquillt. Derart funkensprühend wie unter Dutoit, gestützt auf ein sichtlich und hörbar hingerissenes Instrumental- und Vokalensemble, ist Berlioz' Wunderwerk in Berlin wohl noch niemals erklungen.

Nie verliert Dutoit aus dem Sinn, daß Berlioz bei aller Originalität seiner Instrumentalphantasie, selbst bei aller exzentrisch anmutenden Erfindungs- und Imponierlust ein Charmeur bleibt, ein Beglücker sein will. Er ist bei aller Kühnheit ein Mann der Melancholie und der Romanzen, und "Fausts Verdammnis" kehrt sich ihm denn auch unter der Hand um zu einem fehllaufenden musikallischen Liebesgedicht.

Das wird umso deutlicher, als Julia Varady, kühl und hingebungsvoll Marguerite singt, das damenhafte französische Gretchen. Sie zeichnet die Partie mit einer vokalen Linienschönheit, wie sie wohl sonst nur Ingres für seine Bilder erfand. Sie erkennt in Berlioz' Komposition ein Sing-Gedicht für Sopran, und sie kostet es aus.

Faust ist Vinson Cole, der farbige Tenor. Ihm gelingt es, den feinen Duktus der Faust-Partie in ihrem umflorten Lord Byron-Charakter singberedt durchzuhalten, ohne je in Resignation abzuschlaffen. Eher graustimmig, doch mit nie erlöschendem Spürsinn durchsingt Dietrich Fischer-Dieskau die Mephisto-Partie. Gilles Cachemaille dagegen entzündet an Branders Lied von der Ratte alle Farbreize der Diktion und der Musik feuerwerksgleich.

Irene Maas läßt "von oben" ganz entrückt ihre Himmelsbotschaft vernehmen. Der fabelhafte, von Karl Kamper trainierte Chor ist durchgehend zu bewundern. Die einzige Frage, die nach allem Jubel im Opernhaus an der Bismarckstraße offenbleibt: Wann kehrt Charles Dutoit ans Pult der Deutschen Oper zurück?

Klaus Geitel


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