Die Welt

"Alles ist Spaß auf Erden"

Der große deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der am Sonntag 75 Jahre alt wird, über Singen, Dirigieren, Bücherschreiben

Alle haben ihm zugehört, seit er 1948 seine erste "Winterreise" aufnahm. Auch Patricia Highsmith ließ ihren talentierten Mr. Ripley nach seinen Morden bei einer schönen Platte mit Dietrich Fischer-Dieskau entspannen. Der wohl berühmteste Sänger der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, neben dem als weibliches Gegenstück nur die Callas gelten mag, wird morgen 75 Jahre alt. Zu diesem Jubiläum haben seine beiden wichtigsten Plattenfirmen mehr oder weniger opulent in ihre Archive gelangt. Die Deutsche Grammophon hat gleich 22 CDs quer durch des Sängers Liedrepertoire wieder aufgelegt, das meiste davon ist vorher noch nie erschienen. Mit Dietrich Fischer-Dieskau sprach Manuel Brug.

DIE WELT: Wie haben Sie sich am 1. Januar 1993 gefühlt, dem ersten Tag, nachdem Sie aufgehört hatten zu singen?

Dietrich Fischer-Dieskau: Die Gefühle waren ganz lustig, eine Erleichterung - weil der Abend vorher so herrlich war. Zum Abschied von Wolfgang Sawallisch von der Münchner Staatsoper haben wir aus "Così fan tutte" gesungen und aus "Falstaff", den Monolog und die Schlussfuge: "Alles ist Spaß auf Erden." Ich fand den Text so schön: Dass alles, was man tut, Schaum ist. Und damit kann man ruhig Abschied nehmen. Ich wollte nicht aufhören, aber ich war schon zehn Jahre über dem Punkt, wo ich hätte aufhören können und sollen, und da dachte ich: na, dann wollen wir's mal machen!

DIE WELT: Haben Sie stilbildend gewirkt?

Fischer-Dieskau: Ja, so wird es wohl schon sein, mit meinen Liederabenden, die Konzentration oft auf einen einzigen Komponisten. Aber das ist wieder vorbei. Es hat nicht angehalten. Heute singt jeder, was er schön findet.

DIE WELT: Was war für Sie die stärkste musikalische Empfindung?

Fischer-Dieskau: Musik muss sprechen, egal in welchem Stil sie vorgetragen wird. Wenn das Publikum mitgeht und für eine Weile aus sich heraustritt, eine Einheit wird, bei der jeder sich selbst vergisst, dann ist viel erreicht. Solche Momente sind für mich besonders, das ist mir etwa in Chicago in einer riesigen Halle mit einem ganzen Heine-Programm geglückt. Oder in den fünfziger Jahren, in Salzburg, als Karl Böhm noch nicht so alt war, die Mozart-Opern. Ein Gefühl des großen Bogens der Geschlossenheit; dazu dramatische Leichtigkeit - das war schon wunderbar.

DIE WELT: Was war für Sie die größte Herausforderung als Sänger?

Fischer-Dieskau: Neben Mozart, der so unnahbar ist, Anmut und Würde verkörpert, etwas, was man ideal niemals erreichen kann, natürlich die "Winterreise". Sie ist das Beste, was einem als Bariton passieren kann. Hier findet man die größte Intensität des Ausdrucks, Variationsmöglichkeiten über ein Thema, 24 Abwandlungen eines Zustandes, keine Geschichte, eine endlose Passacaglia. Und hochanspruchsvoll, das fordert den ganzen Menschen.

DIE WELT: Was ist der Unterschied, wenn man ein solches Stück statt mit einem Liedbegleiter wie Gerald Moore mit Swjatoslaw Richter spielt?

Fischer-Dieskau: Er kam mit einer vorbereiteten Fassung, da war es schwierig, ihn zu beeinflussen, aus dem Augenblick zu reagieren. Das ging so weit, dass Richter am Anfang erstaunt war, dass ein Sänger es sich erlaubte, etwas zu seiner Interpretation zu sagen. Das war er nicht gewohnt. Wir hatten eineinhalb Tage, bis wir es zum ersten Mal bei Britten in Aldeborough aufgeführt haben. Das war stressig, hat aber auch geholfen, sich aufeinander einzustellen. Er musste erst lernen, einem anderen zuzuhören. Für einen Sänger ist das Wesentliche des Musikmachens: Zuhören. Ich habe immer meine Begleiter und meine Dirigenten begleitet. Doch schon beim nächsten Mal mit Richter war es wundervoll. Er hatte schnell gelernt. Bei Hugo Wolf, wo man interpretieren muss, da ist sonst nicht viel, da war ihm dann alles klar.

DIE WELT: Über der Tür der Schule, die Ihr Vater in Berlin-Zehlendorf aufgebaut hat, steht mit Schiller zu lesen: "Nur dem Ernst, dem keine Mühe gleichet / Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born."

Fischer-Dieskau: Ja, und in unserem Esszimmer standen Statuen von Goethe und Schiller. Aber der Spruch hat mir nie etwas bedeutet. Und die Schüler der älteren Jahrgänge waren wohl eher abgeschreckt. Also, diese Erfindung von meinem Vater war nicht die beste, glaube ich.

DIE WELT: Sie haben ihren Vater mit zwölf Jahren verloren, 1937, mitten in der Nazi-Zeit. Haben Sie ihn da nicht doppelt vermisst?

Fischer-Dieskau: Ich war scheu, folgsam, schüchtern, unsportlich. Die Schule war mir erleichtert durch das Vorangegangensein meines Vaters. Und sonst: ich bin eben durchgekommen. Ich hatte eine scheußliche Aversion gegen die Nazis, schon gegen das Jungvolk. Deshalb habe ich mich in mich selbst zurückgenommen, den Kopf eingezogen; als Soldat dann erst recht.

DIE WELT: Ihr späteres Leben war aber doch genau das Gegenteil: extrovertiert, immer im Rampenlicht.

Fischer-Dieskau: Ich vergleiche mich ungern mit Goethe, aber der hat auch als Geheimer Rat seine Interessen so gefächert, dass er viele Dinge gleichzeitig betrieb, die nicht nur etwas mit der Schriftstellerei zu tun hatten. So war das bei mir auch. Neugierig war ich immer auf das Singen, das Dirigieren, Rezitieren, Malen, Bücherschreiben. Das reichte schon, um einen Lebenssinn daraus zu machen. Bei mir war eben die Lust zu singen die größte und der Austausch mit Partnern. Die Bühne war mir erst fremd, ich konnte aber üben, in Kriegsgefangenschaft, vor Tausenden von Mithäftlingen in Italien. Die Ochsentour durch Provinztheater, das hätte ich nämlich sicher nicht gewollt.

DIE WELT: Was wird bleiben, von dem, was sie an Moderne gesungen haben?

Fischer-Dieskau: Von dem, was ich nicht uraufgeführt habe: der "Billy Budd" von Britten, den er mir angetragen hatte, aber ich konnte nicht. Und wohl der "Lear" von Aribert Reimann, zumindest als Erinnerung. Weil ihm etwas eingefallen ist und weil er den Stoff thematisch wie formal bewältigt hat. Ein äußerst seltener Fall. Deswegen greifen wir ja auch die alten Werke so frei und frech an: weil es kaum neue Opern gibt. Also inszeniert man stattdessen Händels "Messias". Muss das sein? Genauso wenig wie Ballett mit Mahler-Untermalung, "Lieder eines fahrenden Gesellen" etwa, Neumeier und Béjart haben das gemacht ...

DIE WELT: ... unter Verwendung der alten Furtwängler-Einspielung mit Ihnen.

Fischer-Dieskau: ... Ja, die ist schön, aber man soll das nicht vertanzen. Das ist für die Ohren bestimmt, nicht für die Augen. Alle diese audiovisuellen Multivisionen, das ist kein Gewinn. So vieles an Konzentration geht dabei verloren. Wie eben jeder Gewinn ein Verlust ist.

DIE WELT: Oder umgekehrt, so wie der Krieg eigentlich für Sie ein Gewinn war.

Fischer-Dieskau: Ganz zynisch: Es war schrecklich, hatte aber gute Folgen. So leicht hat es heute niemand mehr! Es war Tabula rasa und Hunger nach dem, was einer wie ich zu bieten hatte. Es ging alles unglaublich schnell. Ich sprang ein, ohne Probe im Brahms-Requiem, dann kam ich nach Berlin und wurde sofort von Heinz Tietjen als Posa im "Don Carlos" engagiert. Das wäre heute unvorstellbar. Weit und breit keine Konkurrenz. In Berlin nur der viel ältere Heinrich Schlusnus. Alle Leute wollten doch nur herausgezogen werden aus dem Grau in Grau ihres Alltags. Und wer da helfen konnte, der war willkommen.

DIE WELT: Und Ihnen wiederum haben die Plattenfirmen geholfen, Walter Legge von der Emi zum Beispiel.

Fischer-Dieskau: Alles nicht mehr denkbar. Heute gibt es vorwiegend Manager, nicht mehr Einzelne, nur Konsortien. Überall zählt nur Geld und Ruhm. Bei jungen Sängern, in der Kunst überhaupt. Wie soll die überleben, wenn alles nur auf Börsenkurse starrt. Die Kunst ist bald nur noch ein notwendiges Übel. Ob die Menschheit das überstehen wird? Zumal wir vom Material her erschöpft sind, haben wir wohl musikalisch nicht mehr viel zu erwarten. Weil man nichts mehr wiedererkennt, sich an kaum etwas erinnern kann.

DIE WELT: Was würden Sie heute sein wollen?

Fischer-Dieskau: Dirigent, das verfolge ich ja auch noch. Ich hätte natürlich früher anfangen müssen. Heute habe ich nur selten Gelegenheit. Ich liebe es dennoch, die Partituren zu studieren, um alles zu wissen, was passiert. Sehr aufregend. Das tut man nicht für sich alleine. Dirigent ist der musikalisch umfassendste Beruf. Deshalb so reizvoll. Nicht wegen des Machtkitzels, sondern wegen der Musikausübung. So habe ich das erfahren, bei Fricsay, Furtwängler, Karajan, Böhm, Szell oder Bernstein.

DIE WELT: Sie aber haben 48 Jahre Karriere gehabt, 1000 Platten aufgenommen, viele Komponisten enzyklopädisch abgearbeitet. Warum das alles?

Fischer-Dieskau: Einen gewissen Mitteilungsdrang mag ich nicht verleugnen, wie er eigentlich keinem Künstler fehlen sollte. So lässt sich auch Lampenfieber besser überwinden.

DIE WELT: Wann war das am größten?

Fischer-Dieskau: Sagen wir, damals bei der Uraufführung des "War Requiem" von Britten. Alle waren sowieso nervös. Und dann sagte auch noch die Wischnewskaja ab, wohl weil sie als Russin nicht neben einem Westberliner stehen durfte. Das war damals noch verboten. Zurück zum Drang des Singens: Ich wollte das und es hat mir Spaß gemacht. Das ist es. Verdis "Alles ist Spaß auf Erden."