3.12.2000

 "Die schönste Ehrung, die ich jemals bekommen habe"

Exklusiv in WELT am SONNTAG sagt der berühmteste Sänger Berlins, Dietrich Fischer-Dieskau, was ihm die Ehrenbürgerwürde bedeutet, die ihm der Senat am Mittwoch verleihen will

Welt am Sonntag: Die Ehrenbürgerwürde Berlins wurde bisher oft an Politiker, aber nur selten an Künstler vergeben. Am Mittwoch bekommen Sie diese Auszeichnung. Fühlen Sie sich in besonderer Weise geehrt?

Dietrich Fischer-Dieskau: Natürlich und ganz besonders. Ich liebe Berlin, meine Heimatstadt. Und dass es Berlin ist, das mich auszeichnet, macht es zur schönsten Ehrung, die ich je bekommen habe, trotz aller Ehrendoktoren und was ich sonst an Preisen bekam.

Welt am Sonntag: Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Berlin denken?

Fischer-Dieskau: Die Luft des Klimas und des Denkens. Wenn ich hier ankomme, weiß ich sofort: Ich bin gesund. Es handelt sich um ein gemäßigtes Klima. Es belebt mich - hoffentlich auch die kulturelle Zukunft.

Welt am Sonntag: Haben Sie ein Lieblingsgebäude in Berlin?

Fischer-Dieskau: Vielleicht ist das der Funkturm. Ich freue mich schon immer auf ihn, wenn ich von außen komme und die Avus hinauffahre. Er ist ein großes Berlin-Symbol.

Welt am Sonntag: Welches Berliner Theater mögen Sie am liebsten?

Fischer-Dieskau: Ich mochte die Schaubühne sehr. Im Moment wird dort Freikörperkultur betrieben, da komme ich nicht ganz mit.

Welt am Sonntag: Sind sie Mitglied einer Kirche?

Fischer-Dieskau: Nicht mehr. Wessen Dogma man nicht glaubt, dem sollte man auch nicht als Mitglied folgen.

Welt am Sonntag: Aber sie sangen immer viel geistliche Musik...

Fischer-Dieskau: Ja. Die Inhalte dessen, was ich sang, nachzuvollziehen, war nicht problematisch, vor allem bei Bach. Mir geht es wie Brahms. Er empfand keinerlei kirchliche Bindung, dennoch nahm er sich häufig in kluger Auswahl Texte aus der Bibel und vertonte sie.

Welt am Sonntag: Haben Ihre Vorfahren zu Ihrer Begabung beigetragen?

Fischer-Dieskau: Ansätze gab es. Mein Großvater mütterlicherseits war ein guter Amateursänger. Er hat in Potsdam sogar als Max im Freischütz gesungen. Seine Frau spielte Klavier. Mein Vater komponierte. Er wollte Musiker werden, aber sein Vater hatte es ihm verboten. Auch noch in seinen letzten Jahren sehe ich meinen Vater am Schreibtisch sitzen und Noten schreiben. Meine Mutter wollte singen, aber ihr Gesang forderte dazu auf, es besser zu machen.

Welt am Sonntag: Anfang der neunziger Jahre hörten Sie plötzlich auf, Konzerte zu geben. Haben Sie diese Entscheidung bereut?

Fischer-Dieskau: Nein, niemals. Nach fast 50 Jahren muss einmal der Schluss kommen. Ich habe 1982 schon mit der Oper aufgehört, der physischen Anstrengung wegen. Dann gab ich noch bis 1992 Liederabende und Orchesterkonzerte. Jetzt bleibt das Dirigieren und die Arbeit mit den jungen Sängern.

Welt am Sonntag: Sie sind neben Ihren Konzerten fast nie öffentlich aufgetreten, zum Beispiel in keiner einzigen Talkshow. Warum?

Fischer-Dieskau: Talkshows mag ich nicht. Wenn ich gefragt wurde, ob ich teilnehme, habe ich meistens mit Schrecken abgesagt.

Welt am Sonntag: Sind Sie schüchtern?

Fischer-Dieskau: Das bin ich vielleicht. Aber ich habe mich auch nie als prominent in dem Sinne gefühlt, dass ich eine bestimmende Rolle innerhalb der Gemeinschaft spiele. Ich bin ein Einzelgänger.

Welt am Sonntag: Gehen Sie auf Parties?

Fischer-Dieskau: Wenn ich die Leute gern habe, die sie geben, warum nicht?

Welt am Sonntag: Die Berliner Opern sind heute lange nicht mehr so gut besucht wie früher. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Fischer-Dieskau: Das hat mich Michael Naumann vor Kurzem auch gefragt. Es ist schwer zu beantworten. Die Inszenierungen tragen einige Schuld, weil die Menschen in der Oper oft nicht mehr erfahren, was unter Oper zu verstehen ist. Sie gehört einem speziellen Genre an, das man nicht einfach ignorieren sollte zugunsten irgendwelcher Experimente. Die sind am Platze bei neuer Musik, aber in traditionellen Werken stören sie meist. Opern werden heute irgendwohin versetzt. Die Kostüme sind in keiner Atmosphäre und keiner Zeit mehr beheimatet, das Bühnenbild suggeriert nie den Schauplatz, den sich der Komponist des Werkes vorgestellt haben mag. Und so weiter.

Welt am Sonntag: Bekommen die Berliner Opern Ihrer Meinung nach zu viel oder zu wenig Geld?

Fischer-Dieskau: Zu wenig. Eine Hauptstadt - vornehmlich aber der Bund - sollte nicht am Geld für die Kultur sparen. Wir in Berlin haben nur eine Chance, nach außen zu strahlen: mit der Kultur und allem, was dazu gehört. Da stehen die drei Opernhäuser an erster Stelle. Zu anderen Zwecken wird das Geld in Milliarden verpulvert, und man weiß nicht wieso. Ich meine zum Beispiel einige der Glaspaläste rund um den Reichstag. Auch das neue Kanzleramt wird so groß, dass sich die Leute drin verlaufen.

Welt am Sonntag: Was planen Sie für die Zukunft?

Fischer-Dieskau: Ich schreibe wieder an einem Buch. Und ich werde dirigieren.

Das Gespräch führte Gunnar Schupelius

Lebenslauf

Dietrich Fischer-Dieskau wurde am 28. Mai 1925 in Berlin geboren. 1947 gab er seinen ersten Liederabend in Leipzig. Ab 1949 Auftritte im Ausland, ab 1954 ständiger Gast in Bayreuth. Dieskau, den die "Times" als "besten Liedersänger der Welt" bezeichnete, produzierte mehr Platten-Aufnahmen als irgendein anderer Musiker des 20. Jahrhunderts.

So wird man Ehrenbürger

Die Ehrenbürgerwürde ist die höchste Auszeichnung, die das Land Berlin zu vergeben hat. Mit ihr werden Persönlichkeiten gewürdigt, "die sich in außerordentlicher Weise um Berlin verdient gemacht haben". Anregungen dafür können von jedem Bürger kommen, vorschlagsberechtigt sind jedoch nur das Abgeordnetenhaus, die Mitglieder des Senats, die Bezirksämter und Bezirksverordnetenversammlungen.

Berlin hat derzeit 108 Ehrenbürger. Als erster wurde 1813 Conrad Gottlieb Ribbeck, Oberkonsistorialrat und Probst zu Berlin, ausgezeichnet.

Die Ernennung ist eine persönliche Auszeichnung, die keine Sonderrechte oder -pflichten begründet. Die Ehrenbürger genießen jedoch einige Privilegien. Dazu gehören Einladungen zu repräsentativen Feierlichkeiten des Landes Berlin, eine Jahresfreifahrkarte für die BVG und ein Ehrengrab.

 Mischung aus Intuition und Genauigkeit

Der große Dirigent und Pianist Daniel Barenboim erinnert sich in WELT am SONNTAG an 20 Jahre gemeinsame Arbeit mit Dietrich Fischer-Dieskau

Bis auf eine einzige Ausnahme - 1963 in Bayreuth - begleitete ich bis 1969 öffentlich keine Sänger. In jenem Jahr gab ich mein erstes Konzert mit Dietrich Fischer-Dieskau. In der Folge arbeiteten wir fast zwanzig Jahre regelmäßig miteinander. Seit ich ihn 1952 zum ersten Mal in Wien gehört hatte, war - und bin ich - ein großer Bewunderer seiner Kunst. Er besuchte 1968 ein Konzert von Jacqueline du Pré und mir in Rom und schrieb uns danach einen sehr rührenden anerkennenden Brief. Da er von unserem Konzert in Rom so sehr begeistert war, fragte ich ihn, ob er sich vorstellen könne, im Rahmen des Kammermusikfestivals "South Bank Summer Music" mit mir in London zu singen. Er sagte zu, und wir gaben unser erstes gemeinsames Konzert - es war Schuberts Winterreise.

Dank seiner habe ich einen großen Teil der Musikliteratur kennengelernt, den ich vorher nicht kannte, insbesondere die Werke von Hugo Wolf. Wir nahmen alle Lieder auf, die er für Männerstimme geschrieben hat, alle Brahms-Lieder sowie Mahler, Mozart Liszt und Schubert. Meine Arbeit mit Fischer-Dieskau lehrte mich viel über die deutsche Sprache und darüber, wie man Sprache und Musik verbindet, über die Bedeutung der Worte und den Klang der Silben, die die Musik begleiten.

Dietrich Fischer-Dieskau ist einer der wenigen Sänger, die an zeitgenössischer Musik interessiert sind. Seine anspruchsvolle Arbeit und peinlich genaue Vorbereitung bei den Aufführungen von Strawinskys Abraham und Isaac (in perfektem Hebräisch!) war erstaunlich; ebenso bei Werken Lutoslawskis und Aribert Reimanns. Ich erinnere mich an eine Schallplattenaufnahme von Cimarosas Il Matrimonio Segreto. Es war faszinierend, wie es ihm gelang, dank der ihm eigenen Mischung aus Intuition und deutscher Genauigkeit die komischen Aspekte der Partie ebenso wie die italienische Sprache einzufangen. Dietrich Fischer-Dieskau gehört zu der raren Gattung Künstler, die es versteht, zum Publikum "hinauszugehen" und es dann "an sich zu fesseln".