Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag 5. Oktober 2001 "Wahre Flaschenpost" Schönberg von hinten, Schnabel von vorn: Berliner Festwochen Eleonore Büning ......und verließ in dem 1914 geschriebenen "Notturno" (nach einer schwülen Elegie von Richard Dehmel auf einen toten Freund) für immer die Geborgenheit der Tonalität. Dies Werk wurde zum Abschluß der Schnabel-Konzertreihe gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Ja, Fischer-Dieskau sang wieder. Ein beeindruckendes Sänger-Comeback, allein dem Unstand zu danken, daß er besagtes "Notturno" bereits 1984 gemeinsam mit Aribert Reimann im Rahmen eines Dehmel-Liederabends wiederentdeckt hat. Obgleich das Stück der Stimme an einigen Stellen den Ambitus von beinahe zwei Oktaven abverlangt und die Melodielinie keineswegs im Sinne eines gebundenen Melodrams notiert ist, sich etwas diastematisch dem begleitenden Klaviertonsatz integrierend, so handelt es sich doch über weite Strecken um eine ganz neue freie Art des Sprechgesangs. Die Melodie umkreist meist die mittlere Lage. Nie verfällt sie in Tonmalerei, sie verlangt aber ausdrücklich ein expressives Deklamieren: "gesprochen, aber mit Melodie!" (Schnabel). So justiert sich der Gesang im Zwischenreich zwischen Ton und Tonloskeit. Jede zu stark aufgetragene Geste wäre zuviel. Fischer-Dieskau setzt seine Pointen mit gekonnter Besonnenheit. Nach wie vor beherrscht er unübertrefflich die Kunst, sein Timbre fließend zu verwandeln und die Stimmfarbe im Diminuendo verblassen oder im Crescendo erröten zu machen. Immer noch kann er sie überzeichnend kräftig erschallen und quasi Trompeten dareinschmettern lassen. So glückte, trotz steifbeiniger Klavierbegleitung (Benedikt Koehlen), eine sensationelle Interpretation. Gebannt saß man unter dem frischen Eindruck, den diese taktstrichlose und frei über den beziehunglos gewordenen Tonarten schwebende, betörend ausdrucksmächtige und vergessene Musik hinterließ. .......