15. Mai 2007
War früher wirklich alles besser?
Dietrich Fischer-Dieskau ist einer der berühmtesten Baritone der
Welt. Er hat die Geschichte des Liedgesanges neu geschrieben und sich in
zahlreichen Opern profiliert. Heute arbeitet er als Dozent. Da er keine Zeit
hatte, uns einen Beitrag zu schreiben, haben wir uns mit ihm über die Gegenwart
und die Vergangenheit der Oper unterhalten.
Herr Fischer-Dieskau, was hat sich in den letzten Jahren in der Oper
verändert?
Fischer-Dieskau: Ich glaube, dass wir noch immer eine Menge
guter Stimmen haben. Aber ich befürchte, dass sich die Einstellung zur Oper
und zur Kunst im Allgemeinen geändert hat. Ich frage mich zum Beispiel, warum
so viele junge Sänger kein Legato mehr singen können - das ist eigentlich
die Voraussetzung zum Singen. Vielleicht liegt all das an einem Mangel an
Selbstkritik, der unter jungen Sängern sehr ausgeprägt ist. Ich sehe das an
meinen eigenen Studenten immer wieder.
Will man heute Star werden statt Sänger?
Fischer-Dieskau: Auf jeden Fall wird es schwerer, Sänger zu
werden, denn meistens lernt man inzwischen, wie laute Töne abgesondert werden
und das am besten nach dem Motto: einer nach dem anderen. Das ist natürlich
keine Methode, um eine vernünftige Phrase zu artikulieren, geschweige denn, um
ein guter Sänger zu werden.
Aber wie kann das passieren, Sie selbst sind doch Dozent …
Fischer-Dieskau: Es ist ja nicht einmal die Faulheit, denn
die Sänger sind sehr fleißig, oft wird sogar sehr pingelig gearbeitet, aber
leider nicht in die richtige Richtung. Wir können letztlich nur Anstöße geben.
Und die werden leider schnell wieder vergessen, weil von Außen so viel Druck
aufgebaut wird. Es tut mir leid, aber ich bin da gar nicht optimistisch.
Was für Druck steht denn auf der anderen Seite?
Fischer-Dieskau: Da stehen inzwischen ja Heere von Managern
hinter den Sängern, die sich einmischen und ein Bild schaffen wollen, das
nichts mit den Stimmen zu tun hat. Ich selbst habe nie einen Manager gehabt.
Ich halte das für unnütz. Außerdem haben viele Dirigenten kaum noch Ahnung von
dem, was sie so treiben und davon, wie etwas gemacht werden sollte.
Ich sitze in der Jury des “Competizione dell´ Opera” in Dresden. Dort
zeigt sich, dass Sänger aus Russland und Südamerika sehr gut sind, und dass
Asiaten sogar Sänger-Legenden wie Sie imitieren.
Fischer-Dieskau: Ja, sie imitieren, aber oft fehlt ihnen
die Durchdringung der Musik. Es ist ein großes Problem, dass immer weniger
Sänger Ahnung von der Sprache haben, in der sie singen - das aber ist die
Grundvoraussetzung zur Durchdringung einer Partitur. In vielen anderen Ländern
gibt es tatsächlich auch noch lebhafte Gesangsschulen, aber die Tongebung, die
dort gelehrt wird, ist für unser Repertoire oft kaum zu gebrauchen.
Was schlagen Sie als Lösung vor?
Fischer-Dieskau: Vielleicht sollte man sich mehr mit den
alten Stimmen auseinandersetzen. Ich sehe, dass kaum noch jemand sich meine
Aufnahmen anhört. Die kommen her und wissen einfach gar nichts. Ich finde es
erschreckend, dass junge Leute Sänger werden wollen, ohne sich mit den alten
Stimmen auseinander gesetzt zu haben. Manchmal sage ich mir, dass ich umsonst
gelebt habe, dass es aus ist - vorbei.
Singen erfordert also die Auseinandersetzung mit der Tradition?
Fischer-Dieskau: Man muss doch herausfinden, welche Sänger
in ihrem Tun heute noch zeitgemäß sein können, seinen eigenen Geschmack bilden.
Aber es gibt so viele wunderschöne Platten - warum nur werden die nicht mehr
gehört? Schließlich ist es doch so: Nur wer Musik zu hören versteht, darf sich
erdreisten, Musik zu machen.
Auf den Opernbühnen hat inzwischen das Regietheater Einzug gehalten -
was sagen Sie dazu?
Fischer-Dieskau: Ich halte es für ein Manko, dass die
Regisseure sich andauernd erdreisten, den Zeitrahmen der Handlung zu
verschieben. Es scheint so zu sein, dass dieses eine Grundvoraussetzung
geworden ist, um als Regisseur zu bestehen. Viele Regisseure scheinen Angst zu
haben, altmodisch zu wirken. Sie erkennen nicht, dass die Voraussetzung für
eine richtige Wiedergabe im historischen Teil der Oper liegt. Wenn sich die
Sänger auf der Bühne in der richtigen Atmosphäre befinden, ein bisschen von der
Luft schnappen, die zur Entstehungszeit der Werke herrschte, ist es viel
leichter, den Geist der Opern zu erfassen.
Sie hören sich sehr pessimistisch an.
Fischer-Dieskau: Das bin ich leider auch, weil ich
beobachte, dass sich die Opernhäuser mit der Aktualisierung selbst einen Strick
um den Hals legen. Sie stellen die Stücke nicht mehr so dar, wie sie gemeint
sind. Es herrscht das Primat der Originalität, nicht der historischen
Verantwortung.
Wie sind Sie selbst an eine neue Opernproduktion herangegangen?
Fischer-Dieskau: Ich habe mich schon lange vor den
Bühnenproben mit den Stücken beschäftigt, bis sie mir in Leib und Seele
übergegangen waren. Heute ist da viel Egoismus und Selbstinszenierung im Spiel.
Man muss die Kritikfähigkeit am eigenen Organ ausbilden und sich bewusst
darüber werden, welche Farben man zur Verfügung hat und welche man einsetzen
kann, um eine Rolle zu gestalten. Es geht erst einmal um den Urzustand der von
sich gegebenen Töne. Jener Töne, die entstehen, ohne dass man das Gehirn
einschaltet. Sie sind die Basis des Singens.
Haben Sie in Proben neue Blicke auf Rollen bekommen?
Fischer-Dieskau: Nur von der darstellerischen, nicht von
der musikalischen Seite. Wenn Karl Böhm gesagt hat, “Wenn Sie da weggehen, kann
ich Sie nicht sehen”, dann war das o.k. Aber in der Regel habe ich bei ihm die
Arbeit mit dem Orchester mitbekommen. Die war hochinteressant. Böhm traute sich
allerdings nicht, den Sängern viel zu sagen.
Mit welchen Regisseuren haben Sie gern zusammen gearbeitet?
Fischer-Dieskau: Mit Regisseuren, die das Stück auswendig
konnten, die jedes Wort und jede Note kannten. Das finden Sie ja heute gar
nicht mehr. Rudolf Hartmann hat in München etwas altbacken inszeniert, aber er
war ein überlegener Verwalter der Oper. Ponnelle, Rennert, das waren
Persönlichkeiten, die es heute gar nicht mehr gibt. Da habe ich auch manchmal
von der Bühne gerufen: “Wozu?” - aber es kamen immer Antworten. Heute sind
Regisseure oft Diktatoren, die nichts auf sich zukommen lassen, sondern alles
so haben wollen, wie sie es sich am Reißbrett ausgedacht haben.
Gehen Sie selbst noch in die Oper?
Fischer-Dieskau: Selten. Ich ärgere mich meist so sehr,
dass ich in der Pause verschwinde. Mir gelingt es nicht mehr, das, was ich sehe
und höre, mit dem Stück, das gegeben wird, in Verbindung zu bringen. In
Bayreuth ist von der alten Gesangsschule nichts übrig geblieben. Und es fängt
ja schon damit an, dass viele Dirigenten nicht mehr den Mut haben, sich in der
Stellprobe zu beschweren, dass irgendeine Position auf der Bühne die klangliche
Qualität beeinträchtigt. Dann fehlt da am Ende natürlich etwas.
Das Gespräch führte Axel Brüggemann.