"Otello" darf nicht platzen

Was vom Verdi-Gesang übrig blieb: Der Pop-Tenor muss herhalten und die geklonte Callas


Marketing-Tenor José Cura

Von Manuel Brug
und Peter Schneeberger

Der Mann ist schlechter Laune. Er wolle, meint die tenorale Testosteronschleuder José Cura genervt, echte Menschen darstellen, Menschen, die lieben und leiden. Die Oper müsse den Menschen wieder Gefühle vermitteln. Und er nehme sich in seinem Leben nur vor, was er tatsächlich schaffen könne.
José Cura, als "Tenor des 21. Jahrhunderts" gefeiert, sitzt im Hotel und wippt nervös mit den Beinen. Am Nachbartisch tuscheln Vertreter seiner Plattenfirma. Natürlich hat Cura, der argentinische Tenor mit dem schmalzig inszenierten Latin-Lover-Image, nicht viel zu erzählen: Seine Karriere ist taufrisch.

Aber was soll er auch sagen? Moderne Sänger-Karrieren werden generalstabmäßig kalkuliert. Oder fangen gar nicht erst an. Ein großes Konzert im falschen Umfeld reicht da schon, um das akribisch aufgebaute Image nachhaltig zu ramponieren. Oder ein cholerischer Anfall, wie ihn den Cura kürzlich bei einer Vorstellung des "Troubadour" in Madrid ereilte, als er sein Publikum wüst beschimpfte, nachdem es zu buhen gewagt hatte.

Das Konto ist dick, aber die Nerven sind dünn, weil auch im klassischen Musikmarkt getrickst und geschoben wird. Und wenn sich das "Produkt" dann nackt und bloß auf einer Bühne präsentiert, sind viele enttäuscht, die nur die aufgeblasene, vielfach zusammengeschnippselte Stimme aus dem CD-Aufnahmestudio kennen.

Das merkt man augenblicklich besonders, denn im Verdi-Jahr werden im Zeichen des italienischen Maestros gerade die großen, italienisch sinnlichen Stimmen gesucht, die es kaum noch gibt. Weil man ihnen keine Zeit für eine Entwicklung lässt. Und weil dem Publikum der Stil des Hörens abhanden kommt. Hauptsache, laut. Selbst in den schlechtesten Aufnahmen ihrer Karriere, als Maria Callas' Vokalorgan nur noch ein Schatten war, lag in diesen Tönen mehr Künstlerschaft als in den akustischen Verlautbarungen ihrer Nachfahren, denen oft ein geschickter Agent und massives Marketing Talent und gute Lehrer ersetzen.

Das erste Verdi-Album der Callas (EMI 5 66460) war eine Erfüllung, ein Traum aus Belcanto, Wahrhaftigkeit und Zaubertönen. Ihr letztes (EMI 5 66462 2) ein trauriges Lebewohl. Dazwischen aber lagen Wonnen der Vokalkunst. Wenn jetzt die Rumänin Angela Gheorghiu in ihre Fußstapfen tritt, dann hört man eine schöne, ebenmäßig ausgebildete Stimme, der es freilich an Einfühlung und Unterscheidbarkeit mangelt. Jede ihrer "Verdi Heroines" (Decca 466 952-2) hört sich gleichförmig an. Zwischen dem Bolero der normannischen Renaissance-Edelfrau Elena aus der "Sizilianischen Vesper" und dem Klagelied der altägyptischen Sklavin Aida gibt es kaum Unterschiede. Eine Sängerinnen-Persönlichkeit im Werden. Dabei ist dieses Album noch eine der besten neuen Verdi-Produktionen überhaupt.

Noch einmal José Cura. Anfang der neunziger Jahre war der ein Nobody. Während des Gesangsstudiums verdiente sich der Rugby-Spieler seine Brötchen als Fitnesstrainer, weshalb sich heute kein noch so seriöses Blatt einen verzückten Nebensatz über Curas umwerfendes Äußeres verkneifen kann: José Cura, "der ideale Mann für öffentliche Erotik". Die Zeiten, in denen es sich Tenöre erlauben konnten, klein und dick zu sein, sind passé. Was im Pop seit jeher die Verkaufszahlen nach oben schnellen lässt, soll endlich auch in der verstaubten Klassik Kasse machen: Jugendlichkeit und Sexappeal.

José Cura hat damit keine Probleme. "Die Klassik muss ein Lifestyle-Gefühl transportieren, das in diese Zeit passt. So sollen für die Medien Anknüpfungspunkte außerhalb der Musik geschaffen werden", analysiert Chris Roberts, Klassik-Chef des Plattenkonzerns Universal diese Entwicklung kühl. Mit Stimmakrobatik allein ist schon lange kein Staat mehr zu machen. "Um die Menschen zu erreichen, müssen wir Künstler im neuen Umfeld präsentieren", erklärt Roberts und meint damit die Untiefen des Boulevard.

Dorthin gehört eben auch der blinde Andrea Botcelli, der "Tenor, der Ehemänner eifersüchtig macht" (BBC Musikmagazin). Schön ist sein Timbre, davon schwärmt auch Jack Mastroianni, der gewiefte Promoter von Cecila Bartoli. "Doch seine Technik ist mäßig. Ein guter Popsänger im falschen Fach." Was einen renommierten Dirigenten wie Zubin Mehta nicht davon abhält, ihn auf seinem nach Plastik und Manipulation riechenden Verdi-Album zu begleiten (Decca 464 600-2). Viele flaue Töne, Einheitsforte. Merke: Geld stinkt nicht. Die Stunde der Wahrheit aber wird schlagen, wenn er am 27. Januar, Verdis Todestag, im Münchner Nationaltheater in dessen Requiem antritt.

Oft hörte man in den letzten Jahren die frohe Kunde: Der Nachfolger von Luciano Pavarotti ist geboren. José Cura steht in diesem Ruf, wenn auch sein Verdi-Album (Erato 8573 80232-2), auf dem er selbst dirigiert, sich als vokaler Rohrkrepierer erweist: Von Erotik kein Spur, unsensibel kämpft er sich durch die Noten. Doch auch die PR-Strategie seines Konkurrenten Roberto Alagna wurde nach diesem Muster gestrickt: Seine Plattenfirma vermarktete ihn aggressiv als "Vierten Tenor". Auch Gheorghiu hatte Regenbogen-Potenzial.

Als er an der Met debütierte, war die Stadt mit Plakaten selbst an Orten übersät, wo man klassisch geschulte Kehlen am wenigsten vermutet: in U-Bahn-Schächten. Heute ist es stiller geworden um den früheren Hoffnungsträger: "Man hatte eine Erwartungshaltung aufgebaut, die kein menschliches Wesen hätte erfüllen können", urteilt Jack Mastroianni. "Wenn man dem Publikum sagt: Das ist der ,Vierte Tenor', kauft es die Eintrittskarten mit der Haltung: Okay, beweise es uns." Doch Alagnas Verdi-Scheibe, wo er auf dem Cover mit nackter Burst posiert, ist weit davon entfernt (EMI 5 56567 2). Besser gelungen, in ehelicher Harmonie, die man auch zynisch zu sehen vermag: eine Duette-Album mit der Gattin Angela (EMI 5 56716 2). Und Claudio Abbado samt Berliner Philharmoniker begleiten diensteifrig.

Den wahren Verdi aber findet man anderswo. Zum Beispiel auf den drei CDs, auf denen 1974 der heute 75-jährige und noch immer aktive Carlo Bergonzi sämtliche Verdi-Arien für Tenor verewigt hat (Philips 432 486-2). Eine Sternstunde des Singens, eine Lehrstunde in Gefühl, Können und Ehrlichkeit. Oder man höre Julia Varady, die von den großen Firmen im Zenit ihres Könnens übergangene beste Verdi-Sängerin ihrer Generation. Zum Glück hat sie ihre zentralen Rollen auf zwei CDs festhalten können (Orfeo C 186 951 A/C414 961 A). Das kommt jeder Ton aus der Seele, ist geformt durch jahrzentelange Vertrautheit mit diesem Repertoire. Die Varady und Bergonzi waren keine Marketing-Produkte. "Bis" - "noch einmal", hätte da auch der sonst so mit Beifallsbekundungen sparsame Verdi gesagt

DIE WELT 19.01.2001