St. Galler Tagblatt, Freitag, 5. September 2003

Auch kleine Dinge

Fussreise mit den Enkeln: Dietrich Fischer-Dieskau & Schüler auf den Spuren von Hugo Wolf

Vor hundert Jahren starb der Komponist Hugo Wolf - Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau haben sein reiches Liedschaffen bewahrt. Dessen Detailreichtum und Tiefe erschliesst sich beim Meisterkurs in Schwarzenberg.

Bettina Kugler

Wie ein Gedicht von Mörike glänzt draussen vor dem Fenster der Septembermorgen rund um Schwarzenberg. Der Nebelschleier hat sich gelüftet, unverstellt lächelt der Spätsommerhimmel auf das Schubertiadedorf. Nicht wenige nehmen den Dichter beim Wort, gehen wandern, Hügel auf und ab. Noch mehr aber sind, dem sonnigen Morgen zum Trotz, in den Angelika-Kaufmann-Saal zum Unterricht geströmt: sieben Meisterschüler samt Klavierpartner, mehrere hundert Zaungäste.

«Husch!»

Frösteln soll es uns, angst und bange werden, als sei Mörikes «Feuerreiter» eben am Fenster vorbeigeprescht und habe flüchtig auf die grünen Notausgangleuchten gedeutet. Kaum hat sein Begleiter am Klavier den flackernden Schauerrhythmus angeheizt, kaum hat er Luft geholt und angefangen, in Hugo Wolfs kongenialer Textvertonung zu erzählen, schon fällt Dietrich Fischer-Dieskau dem Bariton Jan Buchwald ins Wort. «Die ersten Takte brauchen viel mehr Luft. Das müssen Sie flüstern.» Und dann macht es der Meister seinem Schüler vor, feilt so lange am Wort «Husch!», bis auch der Letzte gemerkt hat: der Teufel steckt im Detail. Eine gute Stimme macht noch keinen Interpreten. Ihm selbst kann in Fragen der Wolf-Interpretation keiner etwas vormachen. Schon in den frühen 50er-Jahren hat Fischer-Dieskau die Lieder nach Mörike aufgenommen, später grosse Teile des umfangreichen Liedschaffens. Nur Elisabeth Schwarzkopf hat sich ausser ihm so kompetent der Wolf-Pflege angenommen; ihr ist die im Frühjahr erschienene Hugo-Wolf-Biografie von Fischer-Dieskau gewidmet. Zum 100. Todestag des Komponisten sind die frühen Aufnahmen (und spätere, zum Vergleichen) in einer Anthologie erschienen - für alle, die sich an die besten Jahre des Sängers erinnern wollen.

Stil, Technik, Seelenkunde

Ansonsten macht sich das Jubiläumsjahr allenfalls auf den Programmzetteln von Rezitals bemerkbar. Wenn überhaupt. Wolf, der Exzentriker, der mit 42 Jahren in die Irrenanstalt eingeliefert wurde, bleibt schwierig. Ein Meisterkurs, der seinen Spuren so akribisch folgt, hätte ihm geschmeichelt. Vielleicht hätte er es auch keine fünf Minuten ausgehalten: er hasste Unterricht, er hasste das Unterrichten. Der Saal aber ist ausverkauft, nicht anders als am Nachmittag und Abend, wenn Sabine Meyers Bläser oder Roman Trekel und Bruno Ganz das Programm bestreiten. Privatstunden in geschütztem Rahmen sind das nicht. Noch im letzten Jahr fand der Kurs im Kleinen Dorfsaal statt; doch längst hat sich herumgesprochen, dass hier nicht nur der hoffnungsvolle Nachwuchs etwas lernen kann. Viele kommen, um die Sängerlegende noch einmal auf dem Podium zu erleben, wenigstens als Vermittler. Zehn Jahre ist es her, seit er sich von der Bühne verabschiedet hat. Andere singen selbst, notieren fleissig mit. Stimmsitz, Haltung, kleinste Nuancen der Vokalfärbung, der Betonung: nichts entgeht dem Lehrer, der wie kein anderer alle Details in diesen Liedern aufgedeckt hat. Und die romantisch entrückten Texte mit Wissen und Lebenserfahrung zu füllen vermag. Durchwachte Nächte? «Davon kann ich ein Lied singen.» Heute aber ist der 78-Jährige gut ausgeschlafen, freundlich und milde, wenn auch unnachgiebig. Er macht «nur Vorschläge». Es empfiehlt sich, sie zu beherzigen. Sie hat schon recht, die Mezzosopranistin Dörthe Haring aus Berlin, wenn sie dem Heyse-Lied an diesem Morgen nicht nur mit sängerischem Können und Technik zu begegnen versucht: «Auch kleine Dinge können uns erfreuen, auch kleine Dinge können teuer sein . . . » Auch kleine Dinge, in wenigen Takten verdichtet, können enorm schwierig sein.

Dietrich Fischer-Dieskau: Hugo Wolf. Leben und Werk. Henschel Verlag, Berlin 2003. Fr. 69.- Hugo Wolf. Lieder und Orchesterwerke. Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Gerald Moore, Klavier. 7 CDs, EMI Classics. Copyright © St.Galler Tagblatt AG www.tagblatt.ch